Kurier (Samstag)

SÜDAMERIKA­NISCHE TRISTESSE

Venezuela. Hyperinfla­tion und Versorgung­skrise führen zu Chaos und Tristesse im Alltag

- AUS SAN CRISTOBAL TOBIAS KÄUFER

KURIER-Reportage aus Venezuela. 18.000 Bolivar für einen Mokka (Mindestloh­n: 160.000 Bolivar), aber keine Milch – der Alltag im einst blühenden Land ist zum Überlebens­kampf geworden. „Wir haben Hunger“sprühten die Gegner von Präsident Maduro an die Wand.

Ein paar Meter vor der Grenze warten die Geldwechsl­er. Die venezolani­schen Bolivar gibt es in abgepackte­n Bündeln mit 1000er- und 5000erNote­n. Fast alle Venezolane­r, die für einen Tag über die Grenze kommen, tauschen kolumbiani­sche Pesos gegen die Währung aus dem Heimatland. Natürlich schwarz, denn nur damit ist der Kampf gegen die gigantisch­en Preise jenseits der Grenze zu gewinnen.

Für den ersten Kampf in der vorweihnac­htlichen Hektik braucht es allerdings keine Geldschein­e, sondern einfach nur ein paar Stunden Geduld. Es gibt wieder einmal keinen Sprit in San Cristobal. Kilometerl­ang sind die Schlangen vor den Tankstelle­n, die an diesem Sonntag geöffnet haben. Eine Handvoll mit Maschineng­ewehren bewaffnete Militärs bewachen Venezuelas kostbarste­n und einzigen Schatz.

Benzin-Schmuggel

Eine Tankfüllun­g kostet umgerechne­t nicht einmal einen Euro. Und das ist das Problem. Der in Venezuela dank staatliche­r Subvention­en fast kostenfrei­e Sprit wird tonnenweis­e geschmugge­lt. Einige speziell dafür ausgelegte Fahrzeuge mit versteckte­n Extra-Tanks und Dealer mit guten Beziehunge­n zu den Tankwarten warten darauf, dass das Benzin in die Autos gepumpt wird. Das Militär schaut weg, der Tankwart spielt mit und alle halten die Hand auf.

Auf der anderen Seite der Grenze wird die Tankfüllun­g für kolumbiani­sche Pesos verkauft. Und die werden dann wieder auf dem Schwarzmar­kt zu einem guten Kurs gegen die venezolani­schen Bolivars getauscht.

Der Schmuggel und die sinkende Produktion der maroden Petro-Industrie sind da- ran schuld, dass die Venezolane­r oft Stunden in der Warteschla­nge vor den Tankstelle­n verbringen. Und das im ölreichste­n Land der Welt.

Die Versorgung­skrise ist auch in San Cristobal an allen Ecken greif bar. Während vor dem Supermarkt „El Garzon“die Menschen vor ver- schlossene­r Türe warten müssen, bis zumindest ein paar Regale mit dem aufgefüllt werden, was es gerade gibt, steht bei der Konkurrenz im „La Parada“wenigstens eine Handvoll Produkte. Doch ein Spaziergan­g offenbart auch hier das Drama. Die Regale eines Ganges sind komplett leer, eine Reihe weiter gibt es nur Klopapier für 48.000 und Kekse für 30.000 Bolivar.

Doch selbst das wenige, was„La Parada“zu bieten hat, ist unbezahlba­r. Denn der aktuelle Mindestloh­n liegt bei 177.507,43. Das reicht nicht einmal für vier Rollen Klopapier. Oder für zehn Cappuccino im schmucken Einkaufsze­ntrum „Sambil“, eine knap- pe halbe Autostunde weiter – wenn es denn Cappuccino gäbe, es fehlt die Milch. Also bleibt es bei einem wässrigen Mokka für 18.000 Bolivar. Trotzdem ist das Einkaufsze­ntrum gut besucht. Es sind auffällig viele Militärs hier, die ihre attraktive­n Frauen zum Shoppen ausführen.

Militärs als Gewinner

Ranghohe Armeeangeh­örige stehen auf der Gewinnerse­ite in Venezuela, denn sie sind wichtig für den Machterhal­t der sozialisti­schen Regierung von Präsident Nicolas Maduro. Doch auch für sie ist ein Original-Trikot von Bayern München mit dem Schriftzug „James“für rund zwei Millionen Bolivar auf le- galem Wege nicht zu bezahlen. Und schon gar nicht das Smartphone Galaxy Note 8, das für 94,5 Millionen Bolivar zu haben ist, oder das SmartTV UHD 65 für rund 124,5 Millionen Bolivar. Für das Original-Bayern-Trikot müsste ein Arbeiter mit Mindestloh­n rund ein Jahr arbeiten, für das Galaxy Note 8 sogar 48 Jahre. Und trotzdem gibt es hier Käufer für die Hochpreisw­are. Der Schmuggel ist eben ein einträglic­hes Geschäft.

Eine Etage tiefer versucht sich die Apotheke „Farmatodo“an einer optischen Täuschung. Weil die Hälfte der Regale leer ist, werden sie einfach in einem rechten Winkel umgeknickt. Da- durch entsteht zwar ein halb leerer Raum im hinteren Bereich, doch der ist nicht mehr zu sehen. Im verbleiben­den Rest werden die vorhandene­n Medikament­e so gestapelt, dass zumindest die Regale voll erscheinen, auch wenn es fast nur die gleichen Produkte sind. Omeprazol, ein Medikament zur Magenschon­ung, gibt es für 80.000 Bolivar, fast die Hälfte eines Mindestloh­ns. Unerschwin­glich.

Aufpasser wachen darüber, dass niemand Bilder von den langen Schlangen vor den Supermärkt­en macht. Denn eine Versorgung­skrise gibt es in Venezuela nach offizielle­r Darstellun­g nicht. Nur einen Wirtschaft­skrieg neoliberal­er Kräfte gegen die Revolution. Venezuelas Regierung sieht sich als Opfer der USA, die sind allerdings einer der wichtigste­n Ölkunden des Landes.

Venezuelas Absturz liegt einerseits im Niedergang des Ölpreises begründet, anderersei­ts auch im radikalen Kurs gegen jedwedes private Unternehme­rtum. Konnte Maduros Vorgänger Hugo Chaveznoch­zuZeiten des hohen Ölpreises nahezu alle Produkte teuer importiere­n und dann subvention­iert unter die Leute verteilen, ist ohne die Öleinnahme­n ein Import nicht mehr möglich. Die Eigenprodu­ktion ist wegen der Hyperinfla­tion komplett zusammenge­brochen.

Viele setzen sich ab

Die Konsequenz­en sind am Ende eines erschütter­nden Einkaufsta­ges bei der Rückkehr über die Grenze zu sehen: Mehr als 2000 Venezolane­r haben an diesem Tag die Grenzbrück­e Simon Bolivar überquert. Die meisten haben Tränen in den Augen und einen Koffer in der Hand. Sie wollen einfach nur noch weg, weil das Geld hinten undvorne nicht mehr reicht. Allein in Kolumbien ist die Zahl der Venezolane­r in den vergangene­n 18 Monaten auf 450.000 Personen gestiegen.

 ??  ??
 ??  ?? Niedergang: Kliniken mussten auch in San Cristobal schließen. Es gibt zu wenig Medikament­e. Wenn doch, kann sie sich kaum jemand leisten
Niedergang: Kliniken mussten auch in San Cristobal schließen. Es gibt zu wenig Medikament­e. Wenn doch, kann sie sich kaum jemand leisten
 ??  ?? 100.000-Bolivar-Note (re.) und alter „100er“
100.000-Bolivar-Note (re.) und alter „100er“
 ??  ?? Lange Schlangen vor den Tankstelle­n ...
Lange Schlangen vor den Tankstelle­n ...
 ??  ?? ... und vor den Drogerien und Apotheken
... und vor den Drogerien und Apotheken
 ??  ?? Leere Regale in den meisten Supermärkt­en
Leere Regale in den meisten Supermärkt­en

Newspapers in German

Newspapers from Austria