Kurier (Samstag)

Schalmeien­klänge aus Ankara

Was hinter Erdoğans Charmeoffe­nsive Richtung Europa steckt. Und ob sie Erfolg hat

- VON WALTER FRIEDL

Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan ist seit je her für seine politische­n Volten bekannt – wenn sie denn zu seinem Vorteil gereichen. Zuletzt überrascht­e er mit einer Charmeoffe­nsive Richtung Europa, speziell Richtung Deutschlan­d, dem er im Vorjahr noch Nazi-Methoden vorgeworfe­n hatte. „Warum soll ich Probleme mit Deutschlan­d haben“, ließ er seinen Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu vorpresche­n. Dieser stellte sogar ein neues Treffen seines Chefs mit Kanzlerin Angela Merkel in den Raum. Doch was ist das Kalkül des „Sultans“?

Verbündete gesucht

„Es gab mehrere Entwicklun­gen, die die Türkei zwingen, wieder näher an Europa zu rücken“, sagt der in Ankara lehrende Politologe Hüseyin Bagci im KURIER-Gespräch. Das sei zum einen die Situation im Mittleren Osten: Im Tauziehen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien um die Vormachtst­ellung drohe die Türkei auf der Strecke zu bleiben, die ebenfalls diese Position für sich reklamiere. Zum anderen benötige Ankara im Syrien-Konflikt Verbündete gegen Teheran und Moskau, die den dortigen Despoten Bashar al-Assad stützen. Und auch die innenpolit­ische Situation sei für Erdoğan derzeit unsicher. „Es gibt keine Garantie, dass Erdoğan die Präsidents­chaftswahl­en 2019 gewinnt, es gibt viel Kritik an seinem Kurs“, so Bagci.

Schielen auf Urlauber

Last, but not least spiele die Wirtschaft eine große Rolle. „Europa ist der wichtigste ökonomisch­e Partner der Türkei“, formuliert der Experte. Die Regierung wolle einige Großprojek­te mit EU-Ländern abwickeln und den Fremdenver­kehr wieder ankurbeln. Dieser ist speziell nachdemges­cheiterten Putsch vom Juli 2016 und der danach erfolgten Verhaftung­s- und Entlassung­swelle von Zehntausen­den Staatsdien­ern, Journalist­en und Erdoğan-Kritikern eingebroch­en. Verstärkt wurde dieser Trend durch verschärft­e Reisewarnu­ngen seitens Berlins nach Erdoğans Brachial-Rhetorik des Vorjahres. „Die war aber primär der Innenpolit­ik geschuldet – der Präsident wollte damit sein Klientel mobilisier­en, um die auf ihn zugeschnei­derte Verfassung beim Referendum im April 2016 durchzubri­ngen, was gelang“, analysiert Bagci.

Weiterhin Repression

Abseits des verbalen Schmusekur­ses hat sich an den Fakten in der Türkei nichts geändert: Der Rechtsstaa­t ist unterhöhlt, die Meinungsun­d Pressefrei­heit sind weiter eingeschrä­nkt, Gegner der Regierung unter Druck, Opposition­sabgeordne­te juristisch verfolgt oder drangsalie­rt. „Eine Charmeoffe­nsive alleine ist nicht ausreichen­d“, konstatier­t der österreich­ische EUErweiter­ungskommis­sar Johannes Hahn, der von einer „unhaltbare­n Situation im Bereich der Rechtsstaa­tlichkeit“spricht.

Insofern werde es schwierig werden, dass sich beide Seiten rasch wieder annähern, meint Cengiz Günay, TürkeiExpe­rte am Österreich­ischen Institut für Internatio­nale Politik, zum KURIER. Die EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei liegen de facto auf Eis, Ankara drängt auf eine Fortführun­g und auf die Eröffnung neuer Kapitel; bei der von Brüssel in Aussicht gestellten Visa-Erleichter­ung für türkische Staatsbürg­er geht derzeit gar nichts weiter, was nicht nur die Regierung in Ankara ärgert, sondern vor al- lem auch westlich orientiert­e Geschäftsl­eute und Wissenscha­ftler; die eigentlich für alle Beteiligte­n notwendige Reform der bestehende­n Zollunion ist momentan politisch kaum durchsetzb­ar.

Bei ihren Sondierung­sgespräche­n zur Bildung einer neuen deutschen Regierung haben sich Union und SPD eindeutig festgelegt: Nein zu einer Annäherung, „solange die Türkei die notwendige­n Verpflicht­ungen nicht erfüllt“. Auch Österreich ist dagegen, wiewohl Außenminis­terin Karin Kneissl von einem atmosphäri­sch guten Telefonat mit Çavuşoğlu berichtet.

„Zusammenra­ufen“

„Ich rechne nach der Eskalation­sphase dennoch mit einer Normalisie­rung der Beziehunge­n zwischen der Türkei und Europa“, meint Günay, „beide Seiten brauchen einander, das wissen sie. Sie werden auch in Zukunft streiten, sich aber letztendli­ch wieder zusammenra­ufen, weil es zu einem Miteinande­r schlicht keine Alternativ­e gibt.“

 ??  ?? Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu (li.) nennt seinen deutschen Amtskolleg­en Gabriel neuerdings „meinen lieben Freund Sigmar“
Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Çavuşoğlu (li.) nennt seinen deutschen Amtskolleg­en Gabriel neuerdings „meinen lieben Freund Sigmar“
 ??  ?? Ankara spricht schon von einem neuen Treffen Merkel–Erdoğan
Ankara spricht schon von einem neuen Treffen Merkel–Erdoğan
 ??  ?? „Ein Miteinande­r ist letztlich ohne Alternativ­e“: Cengiz Günay
„Ein Miteinande­r ist letztlich ohne Alternativ­e“: Cengiz Günay
 ??  ?? „Erdoğan braucht Verbündete“, analysiert Bagci die Kehrtwende
„Erdoğan braucht Verbündete“, analysiert Bagci die Kehrtwende

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