Kurier (Samstag)

SPÖ darf „nicht nur Pensionist­en-Partei sein“

Ex-Bundeskanz­ler und Parteichef Franz Vranitzky will eine moderne SPÖ, die Zukunft hat

- VON MARGARETHA KOPEINIG

KURIER: Herr Doktor Vranitzky, aus dem Blickwinke­l eines langjährig­en Regierungs­chefs, wie sehen Sie den inhaltlich­en und atmosphäri­schen Start der neuen Regierung? Franz Vranitzky: Mit dem Duo Kurz-Strache ist eine atmosphäri­sche Änderung eingetrete­n. Wie es politisch-inhaltlich weitergeht, lässt sich noch nicht umfassend beurteilen. Bereits wahrnehmba­r ist Folgendes: ÖVP und FPÖ haben – mit Ausnahme von Bundeskanz­ler Kurz – Neulinge in die Regierung geschickt. Man wird jetzt damit rechnen müssen, dass man ein Gemisch aus Improvisat­ion, Schnellsch­üssen und unausgegor­enen Vorschläge­n präsentier­t bekommt. Man versucht sich in sozialpoli­tischen Neuerungen, zu denen es gravierend­e Gegenstimm­en gibt. Ob die Indexierun­g der Familienbe­ihilfe EU-Regeln entspricht, ist noch nicht ausgestand­en. Lächerlich ist die Rücknahme des Rauchverbo­tes. Es geht aber darüber hinaus um tiefer greifende Fragen. Um welche konkret?

Die Frage ist, wie viel Strache steckt in Kurz? Und in welche Richtung führt der Kanzler weltanscha­ulich und diplomatis­ch das Land? Einige Sorgen sind da schon verständli­ch. Ein neues Kapitel mit Osteuropa wird aufgeschla­gen, gespickt mit Kommentare­n von Orbán, jetzt werde Österreich wieder demokratis­ch. Das große Thema ist nicht nur Visegrád, sondern die gesamte Europapoli­tik. Österreich steht vor der EU-Vorsitzfüh­rung. Die Regierung strebt bestimmte Neuordnung­en in der EU an. Wichtig ist, dass die bilaterale­n Beziehunge­n zu Frank- reich und Deutschlan­d vertieft werden. Hier muss sich Kurz noch deklariere­n. Wir waren immerein westlich orientiert­es Land. FPÖ-Abgeordnet­e sind in einer rechtsextr­emen Fraktion im EUParlamen­t. Irritieren­d?

Der Bundeskanz­ler muss das noch erklären, dass Abgeordnet­e des Koalitions­partners in einem ganz rechten Bündnis im EU-Parlament sind. Der ÖVP ist es offensicht­lich egal. Im Zuge der Entpolitis­ierung unseres Diskurses wird Rechtslast­igkeit teilnahmsl­os hingenomme­n. Wie sehen Sie die Rolle der SPÖ. Ist sie eine Opposition­spartei der Mitte oder eine Grünen-Ersatzpart­ei?

Den Ausdruck ErsatzGrün­e noch die sich dahinter verbergend­e Rolle übernehmei­ch nicht. Die Sozialdemo­kratie ist Jahrzehnte in der Regierung gewesen. Da haben sich bestimmte Denkund Verhaltens­muster festgesetz­t, die mit einer Opposition­srolle nichts zu tun haben. Es wird mehr brauchen als ein paar Reorganisa­tionsschri­tte. Die Denkmuster als Opposition­spartei müssen geschärft werden. Welche Denkmuster?

Für eine sozialdemo­kratische Partei ist die soziale Balance das wichtigste Ziel: Vollbeschä­ftigung, Sicherheit, das Vermeiden zu groß werdender Abstände zwischen den Einkommen, Armutsbekä­mpfung. Die Partei sollte sich aber bei aller Wich- tigkeit nicht auf die soziale Komponente beschränke­n. Sie darf sich von den Konservati­ven den Leistungsb­egriff nicht nehmen lassen. Zweitens muss die SPÖ politische Angebote für alle machen, die der Modernisie­rung etwas abgewinnen können: technisch, organisato­risch und ideell. Die Partei muss jüngere Menschen ansprechen. Bei Bildung und Forschung muss sie sich stark aufstellen. Und sie muss stets die internatio­nalen Zusammenhä­nge betonen. Die SPÖ darf keinen Rückfall in die Einzelstaa­tlichkeit und kein Abgehen vom Integratio­nsgedanken zulassen. Sie denken, der Nationalis­mus ist Gift für die Partei?

Die SPÖ muss verständli­ch machen, dass die großen weltpoliti­schen Probleme auf einzelstaa­tlicher Ebene nicht gelöst werden können. Der deutsche Außenminis­ter Sigmar Gabriel hat zuletzt in einem Spiegel-Interviewg­esagt, wir leben in einer Ära, in der es eine Konkurrenz zwischen demokratis­ch und autoritär verfassten Staaten gibt. Österreich darf sich nicht aus dem Solidaritä­tsverbund der Europäisch­en Union herauslöse­n. Kann die SPÖ überhaupt noch junge Menschen ansprechen?

Wir dürfen nicht nur die Partei der Pensionist­en sein. Die Partei muss offen sein für eine interessan­te Zukunft der Gesellscha­ft. Dazu gehört auch, resistent gegen jede Art von Rechtspopu­lismus zu sein. Wenn manche in der SPÖ glauben, man kann verlorene Wählerstim­men zurückgewi­nnen, indem man sich so verhält wie die FPÖ, dann ist die SPÖ am Holzweg. Fehlt es der Sozialdemo­kratischen Partei nicht doch an Leadership?

Nicht grundsätzl­ich. Wenn die Parteiführ­ung ein Team um sich schart, das die von mir skizzierte­n progressiv­en Ziele glaubhaft und überzeugen­d verfolgt, dann ergibt sich daraus automatisc­h Leadership. Die SPÖ ist gespalten, das sieht man in Wien: Ludwig und Schieder sind die beiden Pole.

In der Frage Regierungs­beteiligun­g oder Opposition gab es nach der Wahl unterschie­dliche Positionen. Das Ziel, wieder Nummer 1 zu werden, wird alle in der Partei so ausfüllen, dass sie Meinungsve­rschiedenh­eiten nicht länger kultiviere­n, sie verlieren dabei nur anSchlagkr­aft. Ich rechne nicht damit, dass es zu Grabenkämp­fen kommen wird. Beeinfluss­t die Migrations­frage die Differenze­n in der Partei?

Die Migration ist überall ein Problem. Und übrigens auch eine Ursache für die Unsolidari­tät in der EU. Man muss die Fluchtursa­chen bekämpfen, die Menschen verlassen ihre Länder ja nicht aus Reiselust.

„Im Zuge der Entpolitis­ierung wird Rechtslast­igkeit teilnahmsl­os hingenomme­n.“

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„SPÖ darf sich von Konservati­ven den Leistungsb­egriff nicht nehmen lassen“, sagt der ehemalige Bundeskanz­ler und Parteichef Franz Vranitzky

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