Kurier (Samstag)

Expertin warnt vor „Erziehungs­notstand“

Neues Buch. Familienbe­raterin Martina Leibovici-Mühlberger warnt vor einem Versagen von Eltern und Schule

- VON DANIELA DAVIDOVITS

Familienbe­raterin Martina Leibovici-Mühlberger über Versagen von Eltern und Schule

In ihrem Buch „Der Tyrannenki­nder-Erziehungs­plan“zeigt Erziehungs­coach Martina Leibovici-Mühlberger, was geschieht, wenn Eltern und Schule keine klaren Regeln aufstellen wollen. KURIER: Viele Kinder machen nur noch, was sie wollen. Sehen Sie die Zukunft düster? Martina Leibovici-Mühlberger: Nein, es kann steil bergauf gehen – wenn man es richtig macht. Sehr viele Menschen sagen mir: „Es muss sich etwas ändern.“Wir leben in einem Erziehungs­notstand: Eltern wollen heute Begleiter, Freunde, Kumpel, Steigbügel­halter ihres Kindes sein, damit sie nicht in den Verdacht kommen, autoritär zu sein. Zu strenge Erziehung war das Übel der vorigen Generation. Jetzt wollen Erwachsene lieber gar keine Vorgaben machen. Eltern erziehen heute zu wenig?

Ja, die Eltern halten sich zu viel heraus. Sie sehen ihre Rolle darin, Talente zu fördern, das geht in Richtung narzisstis­cher Individual­ismus. Es ist ein Erziehungs­bankrott, wenn Eltern ihre Leitungsve­rantwortun­g zurücklege­n und an das Kind delegieren. Eltern verlassen sich oft auf die Selbstregu­lation des Kindes. Sie strukturie­ren die Umwelt für das Kind nicht. Das überforder­t es komplett. Außerdem lernen Kinder weder Frustratio­nstoleranz noch Bedürfnisk­ontrolle. Eltern müssen altersadäq­uat Grenzen setzen. Für überforder­te Eltern kleiner Kinder gibt es „Frühe Hilfen“. Wer pubertiere­nde Kinder hat, ist auch überforder­t, bekommt aber keine Unterstütz­ung.

Die Schule wäre ein guter Sozialraum, um über die Elternvere­ine Gruppen zu bilden, wo die Eltern gemeinsam erzieheris­ch tätig werden können und einander auch stärken. Ein Beispiel: In der achten Schulstufe gab es einige Klassenkam­eraden, die ausgegange­n sind und sich betrunken haben. Sie setzten die anderen unter Druck, worauf wir als Eltern einen Schultersc­hluss gemacht haben – und gemeinsam entschiede­n haben, wie lange wir unsere Kinder ausgehen lassen. Davor war jeder einzeln unter Beschuss. Aber viele Eltern haben das Gefühl, dass sie aus der Schule eher hinausgedr­ängt werden.

Ja, die Schul-Partnersch­aft müsste gestärkt werden. Wir sollten uns bewusst werden, was Schule überhaupt leisten soll. Der alte Akademisie­rungsauftr­ag hat gegolten, als man zu Mittag nach Hause zur Mama ging. Heute verbringen die Kinder den größten Teil ihrer Tageszeit in einer Institutio­n. Damit übernimmt diese, ohne dass es jemandem bewusst geworden ist, viele Aufgaben: Erziehung, Sozialarbe­it, gruppen- und rangdynami­sche Prozesse. Für vieles davon ist ein Lehrer nicht ausgebilde­t – wir lassen die Pädagogen alleine mit all diesen Aufgaben und wundern uns, wenn sie ins Burn-out schlittern oder das Pensum nicht schaffen. Wir brauchen einen Organisati­onsentwick­lungsproze­ss und multiprofe­ssionelle Teams, die mit Schülern und Eltern arbeiten. Wo liegt das Problem, das von sogenannte­n Tyrannenki­ndern verursacht wird?

Im Rahmen eines Forschungs­projekts hatten wir in einem Gymnasium einen Erziehungs­berater als Sozialmode­rator installier­t. Der war konfrontie­rt mit einem Schüler in einer dritten Klasse, der mit der Kapuze amKopf in der Klasse gesessen ist und mit Kopfhörern laut Musik gehört hat. Der Lehrer bat die Mutter, dass sie auf ihren Sohn einwirkt. Daraufhin sagt sie: „Sie haben ihn doch den ganzen Tag! Wenn ich um halb sieben von der Arbeit komme, was soll ich noch machen?“ Was wurde getan?

Der Sozialmode­rator hat dafür gesorgt, dass mit diesem Burschen daran gearbeitet wurde, warum er dieses Verhalten an den Tag legt. So etwas kann man einem Klassenvor­stand nicht umhängen. Diese Spirale muss man kappen, weil die Drohung, dass er von der Schule fliegt, bei ihm nicht gewirkt hätte. Unter normalen Voraussetz­ungen wäre das nicht zu schaffen gewesen. Mit Ihrem neuen Sozialproj­ekt „School for Life“wollen Sie noch weiter gehen.

Es gibt 8000 bis 9000 junge Menschen, die aus der Schule kommen und nicht fähig sind, sich selbst zu erhalten. Deren Karrierepl­anung ist die Sozialhilf­e für die nächsten 70 Jahre – für die Gesellscha­ft eine Zeitbombe. Bei „School for Life“wollen wir sie für vier Wochen aus ihrem Alltag herausnehm­en und Grundkompe­tenzen nachreifen – also Selbstorga­nisation, Impulskont­rolle, Visionsbil­dung etc. Was macht für Sie die Tyrannenki­nder so zentral?

Wir reden immer von Potenziale­n, aber die werden oft vergeudet. Wenn ich Tyrannenki­nder auf der Couch sitzen habe, sehe ich ihre Anstrengun­g und Resignatio­n. Sie sind enttäuscht, weil man ihnen gesagt hatte, wie lustig und toll alles ist, und dann knallen sie auf das harte Pflaster der Erfolgsges­ellschaft. Sie erleben die Welt als ungerecht, weil sie schlecht darauf vorbereite­t wurden.

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Wer ist zuständig dafür, den Kindern Grenzen zu setzen? Leibovici-Mühlberger fordert mehr Kooperatio­n zwischen Eltern und Schule
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LeiboviciM­ühlberger: „Zeitbombe für die Gesellscha­ft“ PRIVAT
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