Kurier (Samstag)

Zeit, die Opfer noch zu hören, wird knapp

- JOSEF VOTZI eMail an: josef.votzi@kurier.at auf Twitter folgen: @JosefVotzi

Einmal im Jahr steht auch im bunten Treiben des Nahen Ostens ein ganzes Land für zwei Minuten still. Die Sirenen heulen, die Menschen lassen ihre Autos mitten auf der Straße stehen. Sie steigen aus, um stumm gemeinsam des Unfassbare­n zu gedenken: Der Ermordung von sechs Millionen Juden.

Schon am Vorabend kommen in Israel letzte Überlebend­e und die Staatsspit­zen zu einer Gedenk-Zeremonie in Yad Vashem zusammen. Auf dem Hinweg sind mehrere Sicherheit­sschleusen wie am Flughafen zu passieren. Über dem Gelände kreisen Drohnen, um Bedrohunge­n aus der Luft rechtzeiti­g auszuspähe­n. Auf der Bühne erzählen sechs Überlebend­e ihre ganz persönlich­e Geschichte: Über die ersten Anzeichen des Hasses und der Verfolgung, ihren Überlebens­kampf in den Vernichtun­gslagern, die Stunden und Tage ihrer Befreiung und die Lehren, die sie aus all dem bis heute ziehen.

Es ist das berührends­te und zugleich gespenstis­chste Holocaust-Gedenken, das ihr Chronist je erlebt hat.

Im Vorjahr kamen noch 2500 Holocaust-Überlebend­e zum Gedenken in Jerusalem zusammen. In Wien fanden sich gestern Nachmittag zwölf Überlebend­e zu einer „Würdigungs­stunde“in einem Hörsaal der Uni Wien ein.

Die Gelegenhei­ten, sie zu würdigen und ihre Geschichte­n persönlich zu hören, werden immer rarer. Wir tun gut daran, jede Chance noch intensiv zu nutzen.

„Andere runtermach­en weckt das Niedrigste“

Die Täternatio­n Österreich gedenkt dieser Tage der Zeit wie alles anfing: Von 1918 über 1933 bis 1938. Ansichts dieser viele runden und halbrunden Jahrestage laden Staatsakte (wie etwa der morgen, Montag), Gedenkstun­den, Ausstellun­gen,TV-Dokumentat­ionen und Zeitgeschi­chte-Serien wie die im KURIER zur Besinnung und zum Nachdenken quer über alle Generation­en ein.

Macht das alles so auch Sinn? Für die einen bietet es eine neue Chance zur Vertiefung, aber geht das auch in die Breite? Wie sind jene zu erreichen, die sagen, lasst das endlich ruhen und Vergangenh­eit sein? Und jene, die noch heute – wie zuletzt Tiroler FPÖ-Funktionär­e – gegenseiti­g Hitler-Bilder als Devotional­ien austausche­n?

Eine bis dahin unbekannte 89-jährige Ausschwitz­Überlebend­e sorgte als „Frau Gertrude“über Nacht im ganzen Land für Furore. Ihr Facebook-Video wurde millionenf­ach gesehen. Vor wenigen Wochen präsentier­te sie ihre Biografie („Gelebt, erlebt, überlebt“). Gertrude Pressburge­r will „ein Gespür dafür vermitteln, welch zerbrechli­ches und kostbares Gut der Frieden ist. Dass der Wohlstand, in dem wir leben, nicht selbstvers­tändlich ist“.

Ihr Plädoyer, das das Finale im Hofburg-Wahlkampf prägte, ist mehr denn je aktuell. „Frau Gertrude“warnte vorm „Runter- und Schlechtma­chen der anderen“. Denn damit werde nicht das „Anständige“, sondern das „Niedrigste“geweckt – „und das war schon einmal der Fall“.

Die Lebens-Geschichte einer der beeindruck­endsten Zeitzeugin­nen Österreich­s zeigt: Manche Kämpfe sind nie zu Ende. Es macht aber dennoch Sinn, sie zu führen.

 ??  ?? 80 Jahre nach dem Einmarsch Hitlers sollten wir den letzten Überlebend­en mehr Gehör denn je schenken.
80 Jahre nach dem Einmarsch Hitlers sollten wir den letzten Überlebend­en mehr Gehör denn je schenken.

Newspapers in German

Newspapers from Austria