Als die Synagogen brannten
Am 9. und 10. November 1938 wurden Juden ermordet, Tempel angezündet und Geschäfte geplündert. Ein Zeitzeuge erinnert sich
Bernhard Morgenstern war gerade zwölf Jahre alt und hat in der Wiener Leopoldstadt gewohnt. Am 9. November 1938 lief er mit seinem jüngeren Bruder in die nahe Tempelgasse, wo er Zeuge der Katastrophe wurde. „Ich habe gesehen, wie die Horden den Tempel angezündet haben, wie er lichterloh brannte, bis fast alles in Schutt und Asche lag“, erinnert sich der heute 92-jährige Wiener an die sogenannte „Reichskristallnacht“.
Doch der Spuk ging weiter: „Vor dem Kaufhaus Schiffmann in der Taborstraße sind SA-Leute mit einem Lastauto vorgefahren, haben alles geplündert, was nicht niet- und nagelfest war. Dann habe ich in der Volkertstraße gesehen, wie meist ältere Juden den Gehsteig mit Zahnbürsten putzen mussten. Auch ein Ehepaar, das ich kannte, weil es in unserer Nachbarschaft wohnte, war dabei. Und die Wiener, die dort herumgestanden sind, haben gelacht, haben sie verhöhnt und gerufen: „Jud, Jud, spuck in Hut.“
Das Geschäft der Eltern
Wiens jüdische Bevölkerung lebte seit dem 12. März 1938, an dem Hitlers Truppen in Österreich einmarschiert waren, in Angst und Schrecken. Das kleine Haus- und Küchengerätegeschäft von Bernhard Morgensterns Eltern war schon wenige Tage nach dem „Anschluss“von SA-Männern geplündert worden, doch mit der „Reichskristallnacht“kam alles noch schlimmer, als man es sich je hätte vorstellen können.
„Reichskristallnacht“nannten die Nazis jene Pogromnacht, in der die Wohnungen, Geschäfte und Synagogen derer brannten, die sie als „nichtarisch“bezeichneten. Man hörte das Klirren der Fensterscheiben, sah die Rauchschwaden der brennenden Häuser, beobachtete die aus Zivilisten mit Hakenkreuzfahnen, HJ-Burschen und SA-Leuten bestehenden Rollkommandos. Diese fuhren plündernd durch die Straßen und nahmen jüdische Frauen wie Männer fest.
4000 Geschäfte
Der Tempel im zweiten Bezirk, dessen Vernichtung Bernhard Morgenstern als Kind mitansehen musste, war eine von 42 Wiener Synagogen, die am9. und10. November 1938 und in der dazwischenliegenden Nacht dem Erdboden gleichgemacht wurden. 27 Wiener Juden wurden getötet und 88 schwer verletzt. Dazu kamen 2000 Wohnungen, die „judenrein“gemacht und 4000 Geschäfte, die – bereits Tage davor mit „Judensternen“gekennzeichnet – vernichtet wurden. Tausende Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Ähnlich erging es den Juden in Graz, Linz, Innsbruck und in den anderen ehemals österreichischen Städten, die jetzt zur „Ostmark“gehörten.
Und im Rest des ganzen Deutschen Reichs, wo man in der „Reichskristallnacht“rund 20.000 Juden inhaftiert und 91 ermordet hatte. Es waren die geborstenen Auslagenscheiben der zerstörten Geschäfte, die der Terroraktion den zynischen Namen „Reichskristallnacht“verliehen haben.
Das Ganze nannte sich „Vergeltungsaktion“für ein zwei Tage zurückliegendes Attentat auf Ernst von Rath, den deutschen Legationssekretär in Paris, durch den 17-jährigen Polen Herschel Grynspan, dessen Eltern von den Nazis deportiert worden waren. Propagandaminister Joseph Goebbels verstand es in wüsten Hetzreden, die Verantwortung für den Anschlag dem gesamten Judentum anzulasten. „Das deutsche Volk“müsse „aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen“. In Radioaufrufen wurde der Bevölkerung „spontane Volkswut“nahegelegt, die Gestapo erhielt den Auftrag, „gegen Juden gerichtete Aktionen nicht zu stören“.
Brutalität der Nazis
Als der Wiener „Gauleiter“Josef Bürckel Mitte November 1938 nach Berlin telegrafierte, dass „die völlige Ruhe wiederhergestellt“sei, waren die mörderischen Maßnahmen, wie man weiß, nicht beendet. Der Holocaust sollte unfassbare Folgen annehmen und dauerte bis zum Ende der Schreckensherrschaft. Am 9. und 10. November 1938 hatten freilich viele Österreicher, die bis dahin noch nicht an die Brutalität der Nazis glauben wollten, das wahre Gesicht der neuen Machthaber erkannt.
Befreiung in Dachau
Für Bernhard Morgenstern, dem Zeugen der schrecklichen Geschehnisse, begann nach der „Reichskristallnacht“eine wahre Odyssee. Er musste zunächst in einer Wiener Holzfabrik in Nachtschicht täglich von sechs Uhr Abend bis sechs Uhr früh arbeiten, wurde dann ins KZ Theresienstadt und von dort im September 1944 in einem Viehwaggon nach Auschwitz deportiert, wo er mit ansehen musste, wie zahllose Juden in die Gaskammern geschickt wurden. Er selbst überlebte, da er als arbeitsfähig galt. Die Befreiung durch US-Soldaten am 29. April 1945 erlebte der mittlerweile 19-jährige Wiener im KZ Dachau.
Die drei Schwestern von Bernhard Morgenstern überlebten wie er die Nazizeit. Seine Eltern, seine beiden Brüder undviele seiner Verwandten wurden ermordet.
Die Novemberpogrome waren der Auftakt all dessen.