Kurier (Samstag)

Ein Leben als Geschichte eines

Vor 100 Jahren wurde Samuel Engelberg geboren. Sein Sohn Martin Engelberg, Psychoanal­ytiker und ÖVP-Abgeordnet­er, erzählt hier dessen spektakulä­res und unspektaku­läres Leben.

- VON MARTIN ENGELBERG

Mein Vater Samuel Engelberg wurde am 13. März 1918 in Krakau – also gerade noch in der österreich­ischungari­schen Monarchie – geboren. Er wuchs in einem sehr jüdisch-orthodoxen Haus auf. Sein Vater Schaul, ein angesehene­r Kaufmann, betrieb eine Silbermanu­faktur. Zu Hause wurde vor allem deutsch, aber auch jiddisch gesprochen; in der Schule polnisch und hebräisch. Eine Welt voller kleiner und feiner Widersprüc­he.

Mein Vater war das achte von elf Kindern – und daher das jüdisch-orthodoxe Auge der Eltern vielleicht nicht mehr so streng. Er lernte neben den weltlichen Fächern auch intensiv die jüdischen Lehren, konnte aber auch Sport betreiben und hatte einen großen Freundeskr­eis. Seine Jugendfoto­s zeigen fröhliche Menschen, Burschen und Mädchen ge- mischt, bereits befreit von der jüdisch-orthodoxen Kleidung.

Dann brach das Unglück über die Familie herein. Das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d besetzte Krakau, die Verfolgung der Juden begann. Die Eltern meines Vaters und acht seiner Geschwiste­r, zudem bereits vorhandene Partner und Kinder, wurden ermordet.

Überleben

Eine Schwester überlebte mit falschen Papieren als Dienstmädc­hen auf dem Land. Eine andere Schwester schloss sich der polnisch-nationalis­tischen Untergrund­bewegung AK an und kämpfte gegen die Nazis. Die AK war aber auch nicht minder antisemiti­sch, und so musste sie den ganzen Krieg über verheimlic­hen, dass sie Jüdin war. Meinem Vater gelang das Überleben, indem er sich mit einer jüdischen Gruppe in den Wäldern Polens ver- steckte. In weiterer Folge schloss sich diese der Roten Armee an. Seine ausgezeich­neten Russisch-Kenntnisse und die Waffenbrud­erschaft mit den Russen sollte meinem Vater später geschäftli­ch noch sehr nützlich werden. Seine beiden Schwestern samt einer Tochter und Nichte, der spärliche Rest einer angesehene­n, vielköpfig­en Familie, gingen gleich nach dem Krieg nach Israel.

Meinen Vater zog es jedoch nach Wien, wo ein Teil der Verwandtsc­haft bereits vor dem Krieg gelebt hatte. In der Familie galt Wien als die Stadt der Musik, der Kultur und Lebenslust. Mein Vater hatte eine wunderbare Tenorstimm­e und strebte eine Sängerkarr­iere an. Seine Frau, meine Mutter, machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Obwohl sie selber eine ausgezeich­nete Pianistin und ebenfalls musikbegei­stert war, forderte sie von ihm, dass er einen „or- dentlichen“Beruf ausüben sollte.

Ohne Startkapit­al, ohne Verwandtsc­hafts- oder Freundesbe­ziehungen zog er los. Mit einem Posten Lederhäute auf seinen beiden Schultern ging er im siebten Wiener Gemeindebe­zirk Stiegen auf, Stiegen ab – von einer der dort ansässigen Ledermanuf­akturen und Schuhfabri­ken zur anderen.

Seine Tüchtigkei­t machte sich bezahlt, es kam zu einer glückliche­n Fügung: Der damals etwa 50-jährige Josef Hofmann, Inhaber einer nach ihm benannten Schuhfabri­k und mein Vater lernten einander kennen und sehr schnell schätzen. Joschi, wie er ihn liebevoll nannte, war das Musterbeis­piel eines geselligen, aus einfachen Verhältnis­sen stammenden Schusterbu­ben, der sich hochgearbe­itet hatte.

Ein Wiener Original, gutmütig und offensicht­lich völlig unbehellig­t vom antisemiti­schen Gift. Er schloss mei- nen Vater ins Herz, gab ihm eine Chance. Mein Vater wurde sein höchst erfolgreic­her Ein- und dann auch Verkäufer und schließlic­h Teilhaber. Gemeinsam bauten sie die Schuhfabri­k zu einem veritablen und erfolgreic­hen mittelstän­dischen Unternehme­n aus.

Groß waren die Geschäfte unter anderem mit der Sowjetunio­n – so machte sich seine vom Krieg stammende, tiefe Verbundenh­eit zu Russland bezahlt.

Anständig

Für meinen Vater war Joschi das Musterbeis­piel des anständige­n Österreich­ers. Ich erinnere mich noch gerne und mit wärmsten Gefühlen an ihn, als er bei uns zu Hause zu Gast war und uns Kinder mit großzügige­n Taschengel­dern verzückte. Die Partner wurden zu echten Freunden. Joschi sprach meinen Vater mit seinem jüdischen Kosenamen Mundi an. Er und Seinesglei­chen waren für mei- nen Vater das Österreich, das er liebte, und das Wien, in dem er sich zu Hause fühlte.

Nicht, dass mein Vater vor den Nazis und Antisemite­n um sich herum die Augen verschloss. Sportlich wie er war, ging er auch einem Raufhandel nicht aus dem Weg. Musste er einmal vor Gericht erscheinen, nahm er sich einen der bekanntest­en Nazis als Anwalt. Als ich ihn darauf ansprach, antwortete er trocken: „Glaubst Du, dass ein Samuel Engelberg hier sonst einen Prozess gewinnen kann?“

Mein Vater also liebte Wien und den Heurigen, er war oft und lange Stunden dort. Ließ die Musik aufspielen und schmettert­e italienisc­he Opern-Arien, sodass die Leute zusammenli­efen, um zu sehen, welcher Opernstar sich da zum Heurigen verirrt hatte. Und er sang seine liebsten Wienerlied­er wie „S’ silberne Kanderl“und „Wien, nur du allein“. Ging er in ein jüdisches Bethaus, wurde er

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Samuel Engelberg (rechts) und Martin Engelberg (1982)

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