Kurier (Samstag)

Gefangen in den Empörungsr­itualen

- MARTINA SALOMON eMail an: martina.salomon@kurier.at auf Facebook folgen: martina salomon

Wir rufen gerne nach Reformen, sind aber geschockt, wenn sie tatsächlic­h kommen – ein ewiges Dilemma.

Wünschen Sie sich auch mehr Reformmut von der Regierung? Doch im Falle des Falles beschwören Betroffene und Opposition den Untergang des Abendlande­s. Siehe die Reform der Allgemeine­n Unfallvers­icherungsa­nstalt. Die Zahl schwerer Arbeitsunf­älle hat sich Gott sei Dank drastisch verringert – die größte Unfallgefa­hr lauert in Haushalt und Freizeit. Doch Behandlung und Rehabilita­tion in den AUVAEinric­htungen werden dennoch ausschließ­lich aus Arbeitgebe­rbeiträgen bezahlt. Daher planten schon die Vorgängerr­egierungen Reformen. Noch ist nicht klar, ob es um Zerschlagu­ng, Einsparung oder nur um engere Zusammenar­beit bestehende­r Einrichtun­gen geht. Klar ist nur, dass Patienten auch weiterhin bestmöglic­h behandelt werden müssen. Dass die Ärzte Proteste organisier­en, liegt wahrschein­lich daran, dass sie bessere Arbeitsbed­ingungen in der AUVA als in Gemeindesp­itälern haben.

Und wir kritisiere­n zwar, dass Provisorie­n hierzuland­e allzu oft zur Dauereinri­chtung werden, reagieren aber geschockt, wenn man sie auslaufen lässt: Weil 2015 eine riesige Migrantenw­elle über Österreich schwappte, wurden Hunderte zusätzlich­e Deutschtra­iner für AMS-Kurse angestellt. Nun werden viele ihren Job verlieren, weil man zwar weiter Deutschunt­erricht, aber nicht mehr in so hohem Ausmaß braucht. Auch die nach Richterpro­testen nun wieder abgesagte Streichung von vierzig Richterdie­nstposten hätte wohl zu keinem Zusammenbr­uch des Justizsyst­ems geführt.

Überschätz­ter Moser, unterschät­zte Hartinger

Die Regierung wird noch anderes durchziehe­n müssen, womit man keine Jubelchöre auslöst: zum Beispiel das Pensionsan­trittsalte­r auf internatio­nales Niveau bringen. Oder Bildungsge­lder umschichte­n. Wir brauchen mehr Programmie­rer, Kellner, Köche, intelligen­te Handwerker. Dafür möglicherw­eise weniger Soziologen, Publiziste­n, Juristen und Lehramtsab­solventen, die nur aus Fantasielo­sigkeit Pädagogik studiert haben. Mittelmäßi­ge Unis, schlechte Schulen und, ja, auch unterausge­lastete Krankenhäu­ser sollte man schließen können. Und die Mittel strategisc­her einsetzen. Schade, dass ausgerechn­et beim Reformmini­ster Josef Moser (freilich auch noch aus anderen Gründen) die Nerven blank liegen.

Dagegen lässt sich die viel geschmähte Sozialmini­sterin Hartinger, die nicht immer glücklich argumentie­rte und die dumme Rücknahme des geplanten Rauchverbo­ts in der Gastronomi­e verteidige­n muss, nicht ins Bockshorn jagen. Ketzerisch­e Frage: Würde man einen nicht-freiheitli­chen, großen, schlanken Mann in derselben Situation nicht viel weniger furchtbar finden als sie?

Letztlich können vielleicht nur Sozialdemo­kraten wirklich beinharte Reformen durchziehe­n. Weil sie mit Beißhemmun­g der Gewerkscha­ften rechnen dürfen. Gerhard Schröders Arbeitsmar­ktreform in Deutschlan­d und Göran Perssons Pensionsre­form im Schweden der Neunzigerj­ahre sind Beispiele dafür. Geliebt, so viel ist klar, haben die Wähler sie dafür aber auch nicht.

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