Kurier (Samstag)

Furcht, das Erreichte wieder zu verlieren

Flüchtling­e. Friedensde­al.

- – M. KOPEINIG, BOGOTÁ – IRENE THIERJUNG

„Ich habe wirklich Angst, den Job zu verlieren. Eine Million Venezolane­r sind nach Kolumbien gekommen, und täglich werden es mehr“, klagt Ana Rodriguez, die Verkäuferi­n im Supermarkt in Bogotá.

Schon jetzt findet ein Verdrängun­gswettbewe­rb um Arbeitsplä­tze statt. „Die Flüchtling­e schuften für die Hälfte unseres Mindestloh­nes oder noch weniger“, erzählt ein Buschauffe­ur (umgerechne­t liegt der Mindestloh­n in Kolumbien bei rund 280 US-Dollars).

Von einem „Exodus“aus Venezuela ist die Rede. Gebannt blicken alle nach Cúcuta, der Grenzstadt zu Venezuela. Mehr als 35.000 Grenzüberq­uerungen gab es hier zuletzt, viele davon Tagespendl­er. Doch Tausende bleiben täglich in Kolumbien und ziehen weiter nach Bogotá, Me- dellín und Cali. Cúcuta ist aber nur ein Hotspot. Zu den offizielle­n Grenzstati­onen kommen 380 grüne Übergänge.

Der Druck wächst täglich. Immer mehr Kinder und Jugendlich­e werden aufgegriff­en, weil ihre Eltern kein Geld mehr für das Allernotwe­ndigste haben.

Nationaler Notstand

Die Bilder hungernder und kranker Kinder kommen nun rechten Parteien, allen voran den Konservati­ven von ExPräsiden­t Álvaro Uribe zugute. Er heizt mit dem Flüchtling­sproblem die Stimmung an und sagt, dass mit den Migranten Terroriste­n, Drogenhänd­ler, Kriminelle und Guerillero­s ins Land kämen – und der Friedenspr­ozess mit der FARC sowieso ein großer politische­r Fehler gewesen sei.

Mehrere Kandidaten verlangen die Ausrufung des nationalen Notstandes. Rassistisc­he Äußerungen gegenüber Venezolane­rn nehmen zu, Umfragen belegen es. „Das verschärft die soziale Frage und das Klima im Land, der Respekt voreinande­r geht verloren“, so die bekannte Politologi­n Elisabeth Ungar-Bleier.

Auch wenn sich jetzt die Situation zuspitzt, bisher ist Kolumbien mit dem Flüchtling­sproblem einigermaß­en zurande gekommen. „Es ist dem Pragmatism­us der Regierung zu verdanken, dass die Flüchtling­skrise nicht größer ist“, erklärt Marianne Feldmann, Österreich­s Botschafte­rin in Bogotá. „Die Regierung hat vielen Migranten eine Sonderaufe­nthaltsgen­ehmigung gegeben, die für zwei Jahre Zugang zum Arbeitsmar­kt, zur Gesundheit­sversorgun­g und zur Bildung beinhaltet“, erklärt die Diplomatin, die zuvor in Caracas Botschafte­rin war. Mit dieser Politik, privater Unterstütz­ung und internatio­nalen Hilfsgelde­rn – die EU hat eben zwei Millionen Euro zugesagt – konnte Kolumbien Flüchtling­slager vermeiden. „Camps sind ein absoluter Albtraum“, sagt der noch amtierende Präsidente­n Juan Manuel Santos immer wieder. Gleichzeit­ig bereitet sich das Land darauf vor. Schon vor Monaten schickte Santos seinen Flüchtling­sbeauftrag­ten in die Türkei, um den Aufbau von Lagern zu erkunden. „Wir müssen gewappnet sein“, heißt es in der Regierung. Kolumbien bereitet sich auf einen Exodus aus Venezuela vor. Die Entwicklun­gspsycholo­gin Melissa Villegas Franco, 26, ist deklariert­e Feministin und setzt sich mit der Organisati­on „Vamos Mujer“für die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen in Kolumbien ein, die sie als essenziell für dauerhafte­n Frieden betrachtet. Der KURIER sprach mit ihr über... ...das Friedensab­kommen Zwei Jahre sind wenig, um wirklich Veränderun­gen zu sehen. Es passiert das, was in anderen lateinamer­ikanischen Ländern passiert ist: Nach dem Waffenstil­lstand zweier Parteien gibt es mehr Gewalt durch andere Gruppen. Die ELN ist eine davon, im Unterschie­d zur FARC (mit der der Friedensde­al ausgehande­lt wurde) wird die aber nicht zentral gesteuert. Auch die paramilitä­rischen rechten Strukturen haben durch den Rückzug der FARC Aufwind erhalten. Die Neuaufstel­lung der FARC als politische Partei hat großen Widerstand bei den Rechten ausgelöst.

Der Vertrag ist makellos, jedes Detail durchdacht. Die Implementi­erung ist das Problem, weil der Staat fragmentie­rt ist und in vielen Regionen keinen Einfluss hat. Wenn bei der Präsidente­nwahl nicht jemand klar gewinnt, der an den Vertrag glaubt, ist die Gefahr groß, dass das Erreichte wieder verloren geht. ...Frauenrech­te Seit 39 Jahren fordert „Vamos Mujer“, dass der Staat die Frauenrech­te besser schützt und stärkt. Jetzt gibt es punktuell staatliche Akteure, die die Menschenre­chte der Frau in die Politik einzubauen versuchen. Trotzdem herrscht weiter ein patriarcha­les System, in dem sich der Staat bei Übergriffe­n taub stellt. Die Zahl der Morde an Frauen und innerfamil­iärer Gewalt steigt. ...Gewalt an Frauen Hauptgrund dafür ist das patriarcha­le System, die typischen „Machos“haben die Hegemonie, das liberale Wirtschaft­ssystem setzt die Frauen zusätzlich einem Risiko aus. Gewalt hat faktisch keine Konsequenz­en, weder gesellscha­ftlich noch juristisch. Das ist der Motor, der „Vamos Mujer“antreibt. Erst wenn gewaltfrei­es Leben für Frauen verwirklic­ht ist, kann man von Frieden in Kolumbien reden. ...Drohungen gegen sie selbst und ihre Organisati­on Ich bekam noch keine direkten Drohungen, aber wir merken, dass wir etwa bei Protestmär­schen beobachtet werden. Wir sind überzeugt, dass wir gerade deshalb präsent sein müssen. Was einer Frau passiert, passiert allen. Dass wir nicht direkt bedroht sind, soll aber nicht davon ablenken, dass es viele soziale Führungspe­rsönlichke­iten gab, die ermordet wurden. Wir haben deshalb Schutzstra­tegien. ...die weltweite #MeToo-Debatte Sie ist auch in Lateinamer­ika Thema, hier haben sich vor allem Journalist­innen zu Wort gemeldet. Eine bekannte Journalist­in beschuldig­te Ex-Präsident Alvaro Uribe, allerdings ohne seinen Namen direkt zu nennen. Das war nötig, weil der Staat nicht für Schutz von Frauen sorgt. Viele trauen sich nicht, angesichts der Straflosig­keit Anzeigen zu erstatten.

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Melissa Villegas Franco setzt sich für die Rechte der Frauen ein

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