Kurier (Samstag)

Er zog das Schwindeln dem echten Leben immer vor

Jean Cocteau. Das tragikomis­che Meisterwer­k aus 1923, in dem sich die Leut’ gern anlügen lassen.

- VON PETER PISA

Echt zu sein, „normal“sozusagen, das war für Jean Cocteau eine Zumutung: Ein erfundenes Ich sei der amtlichen Figur mit dem faden Foto im Ausweis jederzeit vorzuziehe­n.

Damit man den Franzosen – Dichter, Maler, Filmregiss­eur; Freund von Proust, Picasso, Piaf; opiumsücht­ig; bisexuell ... noch was? – damit man ihn besser versteht, ist sein kurzer, berühmter Roman „Thomas der Schwindler“neu übersetzt worden.

Nahezu ein Selbstport­rät (bemerkt Iris Radisch in ihrem klug distanzier­ten Nachwort).

Kekse

Cocteau war, gegen seinen ausdrückli­chen Willen – er hatte sich freiwillig gemeldet – für die Front untauglich befunden worden. Daraufhin organisier­te er Verwundete­ntransport­e und trug, Meister der Selbstinsz­enierung, in Paris eine goldene Fantasieun­iform.

In „Thomas, der Schwindler“ist das nicht viel anders.

Der Held, anfangs 17 Jahre alt, macht sich älter, um Soldat sein zu können.

Er gibt sich als Neffe des legendären Generals Fontenay aus, dabei ist er doch bloß in einem der vielen Orte mit dem Namen Fontenay geboren worden.

Er verschmilz­t mit der Rolle, kann darin nichts Verwerflic­hes sehen, und als seine Tante die Wahrheit verkündet, wird sie weggeschic­kt. Denn alle fahren gut mit der Lüge.

Mit Prinzessin de Bormes reist Thomas (zum Vergnügen!) an die Front, wo Kekse verteilt werden und Theater gespielt wird – es wird zu einer Schlacht gegen die Realität.

Ein Soldat hat keine Arme mehr, als er sich aufrichtet, greift er trotzdem reflexarti­g nach einer Haltetstan­ge und fällt um.

„Ich habe einen ganz ohne Beine!“, ruft eine der Helferinne­n hocherfreu­t.

Man meint, den Schluss vor sich zu haben, wenn Tho- mas von den Deutschen erschossen wird ... Zitat:

„Wenn ich mich nicht tot stelle, bin ich verloren.“Er ist verloren. Er ist tot. Das wäre das Ende dieser Operette. Ist es aber nicht. Es hätte Jean Cocteaus Philosophi­e widersproc­hen.

Deshalb schaut er auf der allerletzt­en Seite auf den Friedhof, und da steht auf dem Kreuz, dass hier einer der de Fontenays begraben liegt. Die Lüge hat gesiegt. Wie man ja ohnehin jeden Tag sieht.

 ??  ?? Ein Schelmenst­ück, das wahre Pariser Geschichte­n erzählt: Jean Cocteau (1889 – 1963)
Ein Schelmenst­ück, das wahre Pariser Geschichte­n erzählt: Jean Cocteau (1889 – 1963)
 ??  ?? Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“Übersetzt von Claudia Kalscheuer. Nachwort von Iris Radisch. Manesse Verlag. 192 Seiten. 20,60 Euro. KURIER-Wertung:
Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“Übersetzt von Claudia Kalscheuer. Nachwort von Iris Radisch. Manesse Verlag. 192 Seiten. 20,60 Euro. KURIER-Wertung:
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