Kanada will mit Offenheit zur Weltherrschaft
Vision. Mit viel Geld und gezielter Immigration will Kanada künstliche Intelligenz nutzen, um die Welt zu verändern
Google und andere IT-Konzerne machen mit Fortschritten im Bereich künstliche Intelligenz (KI) regelmäßig Schlagzeilen. Einige der wichtigsten Beiträge zur aktuellen KI-Renaissance wurden aber nicht in den USA, sondern in Kanada erarbeitet. Spracherkennung und Go-spielende Maschinen basieren auf dem Prinzip des maschinellen Lernens, das in Kanada maßgeblich verbessert wurde. Der KURIER war auf Einladung der kanadischen Regierung vor Ort.
Kaderschmiede
Für die konzeptionellen Fortschritte, die an kanadischen Universitäten gelangen, zeichnen unter anderem der Brite Geoffrey Hinton und der in Frankreich geborene Yoshua Bengio verantwortlich. Während das Thema mangels kurzfristiger Erfolge andernorts lange stiefmütterlich behandelt wurde, förderte Kanada seine Forscher weiter. Spitzenleute an den Universitäten in Toronto, Montreal oder Edmonton bildeten seither eine Generation von neuen Fachleuten aus. Die können sich heute vor Jobangeboten von Facebook, Google und Co kaum retten. Gegen den Abfluss von Talenten wird gekämpft: Mit wettbewerbsfähigen Gehältern wird derzeit ein Ökosystem aufgebaut, das es KIForschern erlaubt, an den Themen zu arbeiten, die sie interessieren. Neben den gut ausgestatteten Universitäten entstehen unabhängige Forschungszentren.
Allein die unabhängige Einrichtung „Vector Institute“in Toronto erhält 200 Millionen kanadische Dollar von der Regierung. Fast alle Förderungen basieren auf öffentlich-privaten Partnerschaften. Damit werden die Investitionssummen vervielfacht und ein Umfeld geschaffen, in dem das erarbeitete Wissen mithilfe von Start-upFörderungen und Mentorenprogrammen in wirtschaftliche Erfolge verwandelt werden soll. Hunderte junge Unternehmen entwickeln KISysteme für verschiedenste Bereiche, von der automatisierten Kundensupport-Abwicklung bis zu Software, die gefälschte Videos erkennen kann. Das Ökosystem ist so attraktiv, dass die großen US-Konzerne Forschungseinrichtungen in Kanada eröffnetet haben. Einige der besten Köpfe kommen nach Kanada und viele abgewanderte Fachleute kehren wieder zurück, erzählen Vertreter der Universitäten. Einen guten Teil dieses Erfolgs führen die Kanadier auf die Offenheit und Vielfalt ihrer Gesellschaft zurück. In Toronto liegt der Anteil der Einwohner, die ursprünglich nicht aus Kanada stammen, bei über 50 Prozent. „Immigration führt zu Kreativität und Diversität und die Investitionen folgen talentierten Leuten“, sagt Kanadas Handelsminister François-Philippe Champagne gegenüber dem KURIER. Dass Präsident Trumps restriktive Politik Kanada noch attraktiver macht – genau wie das Sozialsystem – wird hinter vorgehaltener Hand bestätigt. Sollte Amazons geplantes zweites Hauptquartier in Toronto statt in einer US-Stadt entstehen, würde sich der Konzern durch das Gesundheitssystem über zehn Jahre hinweg etwa 600 Millionen US-Dollar sparen, wie Regierungsvertreter betonen. Viele Wissenschaftler schätzen auch, dass die Forschungslandschaft nicht so abhängig von Militär und Geheimdiensten ist wie in den USA.
Nicht nur Gold
Der KI-Boom hat aber auch seine Schattenseiten. Während junge Forscher in den Innenstädten gut leben, ist Wohnen für viele Menschen dort nicht mehr leistbar. Ein Taxifahrer in Toronto mit iranischen Wurzeln sagt, dass er sich eine Wohnung in der Stadt niemals leisten könnte. Einer seiner Kollegen mit afghanischem Hintergrund wohnt ebenfalls eine Autostunde außerhalb der Stadt.
Das könnte aber erst der Anfang der Probleme sein. „Künstliche Intelligenz wird einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft haben. Ich sehe ernsthafte Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Auch der Einsatz von KI durch Militär und Nachrichtendienste bereitet mir Sorgen“, sagt Yoshua Bengio. Dass KI- Systeme sich im großen Stil durchsetzen werden, steht für den Forscher jedenfalls außer Frage.
Einen großen Beitrag zur Wirtschaftsleistung liefert KI aber auch in Kanada bisher noch nicht. Die KI-Strategie ist trotzdem ein Erfolg und wird im Wettlauf um die technologische Vorherrschaft – auch China, die USA und Europa sind im Rennen – hilfreich sein. Lektionen für Europa lassen sich aber nur bedingt ableiten. Kanada hat das Glück, auf historisch gewachsene Strukturen in der Forschung zurückgreifen zu können. Diese wurden mit viel Geld, einer offenen Forschungs- und Immigrationspolitik und mit Hilfe der geografischen und kulturellen Nähe zur IT-Macht USAgefördert. Europa hat gute Forscher, aber kein einheitliches Ökosystem. Für Österreich könnte das Modell anderswo Früchte tragen: In der Quantenforschung gibt es ähnliche historische Strukturen, die mit Offenheit, Geld und Unternehmergeist gefördert werden könnten.