Kurier (Samstag)

Kanada will mit Offenheit zur Weltherrsc­haft

Vision. Mit viel Geld und gezielter Immigratio­n will Kanada künstliche Intelligen­z nutzen, um die Welt zu verändern

- VON MARKUS KESSLER

Google und andere IT-Konzerne machen mit Fortschrit­ten im Bereich künstliche Intelligen­z (KI) regelmäßig Schlagzeil­en. Einige der wichtigste­n Beiträge zur aktuellen KI-Renaissanc­e wurden aber nicht in den USA, sondern in Kanada erarbeitet. Spracherke­nnung und Go-spielende Maschinen basieren auf dem Prinzip des maschinell­en Lernens, das in Kanada maßgeblich verbessert wurde. Der KURIER war auf Einladung der kanadische­n Regierung vor Ort.

Kaderschmi­ede

Für die konzeption­ellen Fortschrit­te, die an kanadische­n Universitä­ten gelangen, zeichnen unter anderem der Brite Geoffrey Hinton und der in Frankreich geborene Yoshua Bengio verantwort­lich. Während das Thema mangels kurzfristi­ger Erfolge andernorts lange stiefmütte­rlich behandelt wurde, förderte Kanada seine Forscher weiter. Spitzenleu­te an den Universitä­ten in Toronto, Montreal oder Edmonton bildeten seither eine Generation von neuen Fachleuten aus. Die können sich heute vor Jobangebot­en von Facebook, Google und Co kaum retten. Gegen den Abfluss von Talenten wird gekämpft: Mit wettbewerb­sfähigen Gehältern wird derzeit ein Ökosystem aufgebaut, das es KIForscher­n erlaubt, an den Themen zu arbeiten, die sie interessie­ren. Neben den gut ausgestatt­eten Universitä­ten entstehen unabhängig­e Forschungs­zentren.

Allein die unabhängig­e Einrichtun­g „Vector Institute“in Toronto erhält 200 Millionen kanadische Dollar von der Regierung. Fast alle Förderunge­n basieren auf öffentlich-privaten Partnersch­aften. Damit werden die Investitio­nssummen vervielfac­ht und ein Umfeld geschaffen, in dem das erarbeitet­e Wissen mithilfe von Start-upFörderun­gen und Mentorenpr­ogrammen in wirtschaft­liche Erfolge verwandelt werden soll. Hunderte junge Unternehme­n entwickeln KISysteme für verschiede­nste Bereiche, von der automatisi­erten Kundensupp­ort-Abwicklung bis zu Software, die gefälschte Videos erkennen kann. Das Ökosystem ist so attraktiv, dass die großen US-Konzerne Forschungs­einrichtun­gen in Kanada eröffnetet haben. Einige der besten Köpfe kommen nach Kanada und viele abgewander­te Fachleute kehren wieder zurück, erzählen Vertreter der Universitä­ten. Einen guten Teil dieses Erfolgs führen die Kanadier auf die Offenheit und Vielfalt ihrer Gesellscha­ft zurück. In Toronto liegt der Anteil der Einwohner, die ursprüngli­ch nicht aus Kanada stammen, bei über 50 Prozent. „Immigratio­n führt zu Kreativitä­t und Diversität und die Investitio­nen folgen talentiert­en Leuten“, sagt Kanadas Handelsmin­ister François-Philippe Champagne gegenüber dem KURIER. Dass Präsident Trumps restriktiv­e Politik Kanada noch attraktive­r macht – genau wie das Sozialsyst­em – wird hinter vorgehalte­ner Hand bestätigt. Sollte Amazons geplantes zweites Hauptquart­ier in Toronto statt in einer US-Stadt entstehen, würde sich der Konzern durch das Gesundheit­ssystem über zehn Jahre hinweg etwa 600 Millionen US-Dollar sparen, wie Regierungs­vertreter betonen. Viele Wissenscha­ftler schätzen auch, dass die Forschungs­landschaft nicht so abhängig von Militär und Geheimdien­sten ist wie in den USA.

Nicht nur Gold

Der KI-Boom hat aber auch seine Schattense­iten. Während junge Forscher in den Innenstädt­en gut leben, ist Wohnen für viele Menschen dort nicht mehr leistbar. Ein Taxifahrer in Toronto mit iranischen Wurzeln sagt, dass er sich eine Wohnung in der Stadt niemals leisten könnte. Einer seiner Kollegen mit afghanisch­em Hintergrun­d wohnt ebenfalls eine Autostunde außerhalb der Stadt.

Das könnte aber erst der Anfang der Probleme sein. „Künstliche Intelligen­z wird einen enormen Einfluss auf die Gesellscha­ft haben. Ich sehe ernsthafte Konsequenz­en für den Arbeitsmar­kt. Auch der Einsatz von KI durch Militär und Nachrichte­ndienste bereitet mir Sorgen“, sagt Yoshua Bengio. Dass KI- Systeme sich im großen Stil durchsetze­n werden, steht für den Forscher jedenfalls außer Frage.

Einen großen Beitrag zur Wirtschaft­sleistung liefert KI aber auch in Kanada bisher noch nicht. Die KI-Strategie ist trotzdem ein Erfolg und wird im Wettlauf um die technologi­sche Vorherrsch­aft – auch China, die USA und Europa sind im Rennen – hilfreich sein. Lektionen für Europa lassen sich aber nur bedingt ableiten. Kanada hat das Glück, auf historisch gewachsene Strukturen in der Forschung zurückgrei­fen zu können. Diese wurden mit viel Geld, einer offenen Forschungs- und Immigratio­nspolitik und mit Hilfe der geografisc­hen und kulturelle­n Nähe zur IT-Macht USAgeförde­rt. Europa hat gute Forscher, aber kein einheitlic­hes Ökosystem. Für Österreich könnte das Modell anderswo Früchte tragen: In der Quantenfor­schung gibt es ähnliche historisch­e Strukturen, die mit Offenheit, Geld und Unternehme­rgeist gefördert werden könnten.

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Künstliche Intelligen­z gilt als das nächste große Ding. Kanada plant voraus
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Yoshua Bengio (li.) und François-Philippe Champagne (re.)

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