Kurier (Samstag)

Das Vergessen innerhalb von 70 Sekunden ist unvergessl­ich

Joyce Carol Oates. Der Mann vergisst seine Frau. Immer wieder vergisst er sie. Eine Beziehung kurzer Momente.

- VON PETER PISA

Es ist nur ein Gerücht, nicht einmal ein stichhalti­ges, dass Goldfische schon nach drei Sekunden alles vergessen haben.

Wahr ist: Das Kurzzeitge­dächtnis eines Mannes, der als H.M. in die Wissenscha­ft einging, reichte nur 70 Sekunden in die Vergangenh­eit zurück.

Die US-Amerikaner­in Joyce Carol Oates ist darüber in der Fachbiblio­thek ihres Ehemannes (= Neurowisse­nschaftler) gestolpert sozusagen.

IQ über 150

H.M. wurde ihre literarisc­he Beute, und sie hat daraus E.H. gemacht:die Romanfigur Elihu Hoopes.

In den 1960ern wurde durch eine Virusinfek­tion ein Teil seines Gehirns beschädigt. Was vor der Krankheit war, hat er sich – allerdings nicht immer – gemerkt, er kann Reden Lincolns auswendig, ebenso Dialoge aus seinem seinerzeit­igen Lieblingsc­omics (Dick Tracy), und Kreuzwortr­ätsel kann er schnell lösen, sein IQ liegt über 150.

Aber was vor 70 Sekunden geschehen ist, ist weg.

Elihu Hoopes kann keine neuen Erinnerung­en bilden.

Er lebt in ewiger Gegenwart. Das ist nicht die totale Dunkelheit, aber ein Halbdunkel: Hier irrt er im Kreis herum und ist „ Der Mann ohne Schatten“.

31 Jahre

Oliver Sacks hätte den Fall auf wenigen Seiten so dargestell­t, dass er rasch zum Allgemeing­ut geworden wäre.

Unvergessl­ich – welch Wort in diesem Zusammenha­ng! – wird es bei Joyce Carol Oates ebenfalls. Freilich kann sie dem Geheimnis Gedächtnis nicht mehr entlocken als der berühmtest­e Neurologe, aber:

Sie kann ausführlic­h von Testreihen erzählen, von brutalen, schmerzhaf­ten, unethische­n. Sie bringt den – bei Erstbegegn­ung – 37-jährigen Patienten mit der 24-jährigen Neuropsych­ologin Margot Sharpe zusammen. 31 Jahre werden sie eine Einheit bilden.

Margot lebt für die Karriere. In der von Männern dominierte­n Wissenscha­ft muss sie mit ihrer Arbeit verheirate­t sein.

Sie wird aber auch mit Elihu Hoopes (fast) verheirate­t sein. Eine Ehe, die für den Mann aus sehr kurzen Begegnunge­n besteht. Eine Herausford­erung. Eine schreiberi­sche für Joyce Carol Oates? Noch zu wenig? Dapasst noch ein bisschen Psychothri­ller hinein: Wer ist die tot im Wasser trei- bende Frau in Hoopes’ Langzeitge­dächtnis?

Viel ist das, mitunter fühlt man sich vom Gedankenre­ichtum erschlagen, von der Menge der Bücher sowieso – denn schon kommt Oates’ nächster Roman auf den Tisch: „Pik-Bube“(Verlag Droemer, 20,60 Euro).

Ein erfolgreic­her Autor wie Stephen King schreibt zusätzlich unter Pseudonym – und in diesen Schundroma­nen lebt er seine böse Seite aus, seine Mordlust.

Auch keine Enttäuschu­ng, „Pik-Bube“. Kapitulier­en kommt zwar nicht infrage, wäre aber verständli­ch: Allein Frau Oates schrieb bisher ... 108 Bücher.

 ??  ?? Wird in einer Woche, am 16. Juni, 80 Jahre alt: Joyce Carol Oates
Wird in einer Woche, am 16. Juni, 80 Jahre alt: Joyce Carol Oates
 ??  ?? Joyce Carol Oates: „Der Mann ohne Schatten“Übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer. 384 Seiten. 24,70 Euro. KURIER-Wertung:
Joyce Carol Oates: „Der Mann ohne Schatten“Übersetzt von Silvia Morawetz. S. Fischer. 384 Seiten. 24,70 Euro. KURIER-Wertung:
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria