Kurier (Samstag)

Gemeißelte Natur

BÜCHER Erri De Luca. Ein Bildhauer und der nackte Jesus. Zeit für einen Dialog mit Gott, auch über Kunst.

- VON PETER PISA

Der Baum wirft einen großen Schatten.

Erri De Luca stellt sich vor: Der Schatten ist eine Tischdecke, die der Baum freundlich für ihn ausbreitet.

Deshalb zieht er sich die Schuhe aus, bevor er den Schatten betritt.

So einer ist der Sizilianer; und so schreibt er. Er meißelt Skulpturen, bis nur noch eine Träne übrig bleibt oder ein Schmetterl­ing oder ein Kuss. Etwas Federleich­tes jedenfalls, obwohl es schwer wiegt.

Der Roman „Montedidio“machte den ehemaligen Maurer, Lagerarbei­ter und Lkw-Fahrer De Luca 2001 bekannt – im ältesten Teil Neapels, in Montedidio, lernen die Bewohner: Wer allein ist, ist weniger als einer.

Nun ist es Zeit für einen Dialog mit Gott. Einen Dialog mit den Weltreligi­onen. In der Hoffnung, Gott zu gewinnen. Aus Angst, Gott zu verlieren. Und das macht der 67jährige Erri De Luca mit folgender Geschichte:

Geld zurück

Ein Bergbewohn­er, vielleicht im Piemont, begleitet Reisende – er sagt niemals: Flüchtling­e; er sagt niemals: schmuggelt – auf gefährlich­en Routen über die Grenze.

Das machen im Dorf gegen Geld auch der Schmied und der Bäcker. Aber mit einem Unterschie­d:

„Er“gibt er den Reisenden, am Ziel angelangt, ihr Geld zurück; und hält sich die Ohren zu, um keinen Dank zu hören; und verschwind­et.

Als sich das herumspric­ht, wird er im Dorf angefeinde­t und geht ins Exil, ans Meer. „Er“ist der Icherzähle­r. Ein Bildhauer. Ein gebildeter Künstler, aber niemals würde er von sich behaupten, Künstler zu sein.

Soll hier weitererzä­hlt werden? Es könnte reichen, um in die nächste Buchhandlu­ng zu gehen.

Nackt

An der Küste hat ein Pfarrer eine herrliche Jesusfigur aus Marmor stehen. Der Mann, der sie vor 100 Jahren schuf, ließ Jesus unbekleide­t. Das durfte damals nicht sein, ein anderer Bildhauer musste einen steinernen Schurz ergänzen.

Nun aber scheint der Kirche die Zeit reif dafür, den Gekreuzigt­en nackt zu zeigen.

Der Erzähler wird den Schurz entfernen, dabei wird „die Natur“beschädigt – er sagt niemals: Glied, Penis. Er wird „die Natur“nachbauen. Sie hat eine leichte Erektion, wie sie im Todeskampf vorkommt. Geht das?

Während er meißelt und poliert und im Marmor Gänsehaut spürt und auf den Nägeln Buchstaben entdeckt, wird man ... „ Den Himmel finden“. Das ist der Titel des Romans.

Die Arbeit an Christus ist ein religiöser Akt. Über Nächstenli­ebe und Barmherzig­keit wird laut nachgedach­t. Zarte Sätze, die geschickt Pathos meiden, können eine Wucht haben.

Seite 137: „Der Tod ist ein vierblättr­iges Kleeblatt, früher oder später findet man ihn, und mehr gibt es nicht.“

Wo ist ein Baum, um lesend im Schatten unbekannte Ziele zu erreichen?

Ohne Schuhe.

 ??  ?? Hat sich Althebräis­ch beigebrach­t, um Teile der Bibel ins Italienisc­he zu übersetzen: Erri De Luca, immer für Überraschu­ngen gut
Hat sich Althebräis­ch beigebrach­t, um Teile der Bibel ins Italienisc­he zu übersetzen: Erri De Luca, immer für Überraschu­ngen gut
 ??  ?? Erri De Luca: „Den Himmel finden“Übersetzt von Annette Kopetzki. List Verlag. 192 Seiten. 17,50 Euro.
Erri De Luca: „Den Himmel finden“Übersetzt von Annette Kopetzki. List Verlag. 192 Seiten. 17,50 Euro.
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