Kurier (Samstag)

Der stille Anführer

Toni Kroos ist der Taktgeber der Deutschen. Ein Porträt.

- VON MICHAEL ROSENTRITT

Auf einmal platzte es aus ihm heraus. Als hätte er sämtliche Wut seiner Karriere für diesen einen Moment gesammelt. Kaum hatte er den Rasen des Berliner Olympiasta­dions verlassen und das Licht der Fernsehkam­eras auf sich gespürt, donnerte er auch schon los: „Wir sind nicht so gut, wie uns immer eingeredet wird oder wie vielleicht auch einige von uns denken“, rief Toni Kroos.

Er meinte den amtierende­n Weltmeiste­r, die deutsche Nationalma­nnschaft – seine Mannschaft. Vor vier Jahren hatte sie alle mit ihrem Fußball verzückt. 7:1 gegen Brasilien. Und jetzt das. Diesmal verloren die Deutschen 0:1 gegen eben jene Brasiliane­r. Kroos war an diesem Märzabend nicht mehr zu halten. Sprach von „mangelndem Widerstand“und „fehlendem Verantwort­ungsgefühl“– scharfe Worte.

Der zweifache Familienva­ter ist nicht der Typ, der sich von seinen Emotionen mitreißen und treiben lässt. „Es ist definitiv nicht so, dass wir der absolute Favorit sind, der nach Russland fährt. Das war vorher Quatsch, das ist jetzt Quatsch. Aber jetzt sehen es vielleicht ein paar mehr so“, erklärte er.

Toni Kroos Deutschlan­ds Lenker Wenn die deutsche Nationalma­nnschaft am Sonntag gegen Mexiko in das Turnier startet, wird womöglichm­ancher an seine Worte denken. Der 28-Jährige hat zum vierten Mal die Champions League gewonnen, was vor ihm noch keinem Deutschen gelungen ist. Mehr noch: Kroos ist so etwas wie die Versicheru­ng für die deutsche Nationalma­nnschaft – während bei allen anderen die Unsicherhe­it zumindest ein bisschen mitspielt.

Generalkri­tik

Wird Thomas Müller wirklich wieder so viele Tore schießen wie bei den Endrunden 2010 und 2014? Werden Manuel Neuer, Jérôme Boateng und Mats Hummels gesund sein und noch einmal eine uneinnehmb­are Festung bilden können wie vor vier Jahren?

Nur bei Kroos stellt sich keiner mehr Fragen. Mit seiner Souveränit­ät kann er jedes Spiel lenken und vielleicht sogar noch mehr. Für gewöhnlich mag Bundestrai­ner Joachim Löw es ganz und gar nicht, wenn Spieler eine solche Generalkri­tik üben. In diesem Fall aber gab er Toni Kroos uneingesch­ränkt recht.

Seit den Rücktritte­n der Weltmeiste­r Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mer- tesacker ist Toni Kroos in den Mannschaft­srat aufgerückt. Er ist längst der heimliche Kapitän. Aber keiner wie die Herren Matthäus, Effenberg oder Ballack, die lautstark und gestenreic­h die Mannschaft führten und auf dem Platz mal gehörig dazwischen­fuhren. Als der damals 20-Jährige am 3. März 2010 im Spiel gegen Argentinie­n in der Nationalel­f debütierte, stand Michael Ballack noch auf dem Platz. Es sollte, was damals noch nicht absehbar war, seine letzte Partie gewesen sein.

Pass-Maschine

Auf Ballack folgte Philipp Lahm und mit ihm eine neue, eine andere Art des Führens, nicht mehr von oben herab. Vor allem habe Lahm sich als Kapitän nie so wichtig genommen, „das hat mir gefallen“, hat Kroos einmal gesagt. Mittlerwei­le ist Manuel Neuer Kapitän des Teams. Der 32-Jährige führt durch Ausstrahlu­ng, durch Präsenz und Körperspra­che. Aber er steht im Tor, etwas abseits des Geschehens.

Kroos wurde vom Boulevard schon einmal zur „PassMaschi­ne“ausgerufen. Was für ein hässliches Wort für diese Gabe, nur weil sie maschinenh­afte Präzision aufweist. In Russland wird er wieder mit Sami Khedira das Zentrum bilden. Er ist kleiner und schmächtig­er als der Juventus-Profi, körperlich eher ein Durchschni­ttstyp.

Doch im Gegensatz zu Khedira scheint Kroos den Körper kaum zu brauchen. Ihn tragen Intuition und Technik, das Gefühl dafür, wo der Ball jetzt hin sollte. Es gibt nur wenige Spieler, die Schweres so leicht aussehen lassen können.

Privatmann

Und dann wirkt dieser Kroos erstaunlic­h stressresi­stent. Joachim Löw: „Toni kann das Spiel mit seiner Technik in richtige Bahnen lenken.“Bei seinem Verein Real Madrid spielt er mit Cristiano Ronaldo zusammen, der nach außen alles überragt. Dass die meisten nur von Ronaldo reden, ist ihm ganz recht.

Sein Privatlebe­n hält der Real-Star lieber privat. Über das, wasdennoch­bekanntist, ließe sich etwa sagen: Verglichen mit Ronaldo führt Kroos ein beinah schon langweilig­es Leben. Vor drei Jahren hat er, geboren in Greifswald, mit zwölf umgezogen nach Rostock, seine Jugendlieb­e geheiratet. Im Sommer wird der gemeinsame Sohn fünf, die Tochter zwei. In Madrid lebt die Familie im abgeschott­eten Viertel La Finca in Pozuelo de Alarcón, wo viele der RealStars wohnen.

Toni Kroos ist eineinhalb Wochen nach allen anderen Nationalsp­ielern zur Mannschaft ins Trainingsl­ager gestoßen, als es fast schon vorüber war. Der Bundestrai­ner hatte dem ChampionsL­eague-Gewinner Sonderurla­ub genehmigt. Er solle mal für ein paar Tage nicht an Fußball denken. Das sei für ihn wichtiger als trainieren. Warum hat eigentlich nicht Toni Kroos die Binde am Arm, die doch nach wie vor als höchster Ausdruck genau dessen gilt, als eindeutige Würdigung, die auch noch der letzte Zuschauer versteht?

Gelassenhe­it

Kroos treibt diese Frage wohl nicht um. Es sei ihm nicht wichtig, für die Öffentlich­keit wichtig zu sein. „Ich will für die Mannschaft wichtig sein und für den Trainer.“Der Weltmeiste­r hat sich ein Stück Gelassenhe­it hinüberger­ettet in die laute, schrille und oft überkandid­elte Welt des Fußballs. Dieser Mann taugt nicht fürs Posen, für die Inszenieru­ng.

Dabei würde die ihre Wirkung wohl kaum verfehlen. Auf Facebook hat er zwölf Millionen Follower, auf Twitter knapp sieben und auf Instagram folgen ihm 17,3 Millionen. Damit zählt er online zu den Nationalsp­ielern mit den meisten Anhängern. Die Kanäle bedient er selbst.

In Rostock trainierte einst sein Vater Roland ihn und seinen jüngeren Bruder Felix, der heute Spieler beim 1. FC Union Berlin ist. Bereits mit 16 wechselte Toni Kroos zum FC Bayern. Dort spielte er von 2006 an – mit einem eineinhalb­jährigen Ausflug nach Leverkusen – bis 2014 und war wesentlich­er Bestandtei­l jener Mannschaft, die 2013dasTri­ple aus Meistersch­aft, Pokal und Champions League gewann.

Für die meisten Fußballer ist ein Engagement bei Bayern das Höchste der Gefühle. Doches gibt Spieler, die noch einen Schritt weitergehe­n und von Real gerufen werden. Ex-Trainer Zinédine Zidane nannte Kroos einen Spieler „mit unglaublic­her Ruhe am Ball und schnell im Kopf. Das ist selten.“

„Mit Ball sind wir fast stärker als 2014. Wenn wir das ohne Ball auch hinbekomme­n, werden wir gute Chancen haben.“

Gefühlsbet­ont

Als Kroos endlich zur Mannschaft gestoßen warimTeamc­amp, wollten die Medienvert­reter Hunderte Dinge von ihm wissen. Er hatte dieses Mal wohltuende für sie. Qualitativ sehe er das jetzige Team auf Augenhöhe mit dem Weltmeiste­r-Team von 2014. „Mit dem Ball sind wir fast stärker als 2014, wenn wir das ohne Ball auch hinbekomme­n, werden wir gute Chancen haben.“Entscheide­nd werde sein, „ob wir dieses Gefühl entwickeln können wie 2014, dieses Gefühl, ganz, ganz schwer zu schlagen zu sein. Dieses Gefühl, immer die Möglichkei­t zu haben, ein Tor zu machen.“

Bestimmt war der Sommer 2014 der Sommer seines Lebens. Er wurde Weltmeiste­r und wechselte zum größten Fußballver­ein der Welt. Vielleicht aber steht er nun im Zenit seiner Schaffensk­raft. Er sei in seiner Spielweise gereift, sagt Joachim Löw: „Immer belastbar, ohne dass er Müdigkeit zeigt.“Derjenige, der die Mannschaft führe, vor allem nie Nerven zeige. „Das alles macht ihn besonders.“

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 ??  ?? Schaltzent­rale: Für das Spiel der DFB-Mannschaft ist Mittelfeld­mann Toni Kroos unverzicht­bar
Schaltzent­rale: Für das Spiel der DFB-Mannschaft ist Mittelfeld­mann Toni Kroos unverzicht­bar
 ??  ?? Glückskind­er: Familie Kroos und der Champions-League-Pokal
Glückskind­er: Familie Kroos und der Champions-League-Pokal

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