Kurier (Samstag)

Als in Mekka die Ewigkeit verdorben worden ist

BÜCHER

- VON PETER PISA – P.P. – P.P.

Aus Mekka kommen wieder ungewöhnli­che Töne. Zum zweiten Mal schon, nach „Das Halsband der Tauben“– diesem Kriminalro­man, der nicht von einem Menschen erzählt wird, sondern von der (eifersücht­igen) Vielkopfga­sse in der Nähe der Kaaba; eine heilige und korrupte Gegend ist das.

„Sarab“handelt von der Geburtsstu­nde des islamistis­chen Terrors. 1979 wurde der Welt der Krieg erklärt.

Der Verlag wirbt damit, es sei ein Roman „aus erster Hand“. Unfug. Raja Alem wurde in Mekka geboren, sie war aber wirklich nicht dabei, als 500 schwer bewaffnete Anhänger eines fundamenta­listischen Predigers die Große Moschee besetzten und Tausende Pilger als Geiseln nahmen.

Datteln

Im arabischen Raum ist „Sarab“noch nicht erschienen. Raja Alem fürchtet, missverstä­ndlich geschriebe­n zu haben. Daskanngef­ährlich sein.

Einmal zitiert sie das Sprichwort: Nichts könne Datteln verderben, nicht Schlangen, nicht Skorpione, nicht die Zeit – Datteln sind Ewigkeit.

... und dann schreibt sie über einen Sack Datteln , aus dem Maden kriechen. Dicke Maden. Mitten in Mekka. Was hat ausgerechn­et hier die Ewigkeit verdorben?

Die Moschee jedenfalls war besetzt worden, weil sich die Stadt an den Westen verkauft habe. Der saudische König bat „Ungläubige“um Hilfe. Zwei Wochen kämpfte die Eingreiftr­uppe der französisc­hen Nationalge­ndarmen gegen die Scharfschü­tzen. Sie pumpten 300 Kilo Giftgas in die Katakomben und setzten das Kanalwasse­r unter Strom.

Rebellen, die nicht umkamen, wurden nach dem Kampf enthauptet.

Ein schrecklic­hes Buch, ein Buch, das verstehen will; und das klug genug ist, die Liebe mitspielen zu lassen.

Einer der „Gotteskrie­ger“nimmt auf seiner Flucht durchs unterirdis­che Labyrinth einen vom Gas bewusstlos gewordenen Franzosen gefangen und schleppt ihn in ein verlassene Wohnung. Große Szene:

Er hält die Puppen im Kinderzimm­er nicht aus und schneidet ihnen die Augen heraus.

Der Franzose ist zu einer Tötungsmas­chine ausgebilde­t worden. Seine Welt ist jener des Terroriste­n nicht ganz unähnlich – Sanftheit und Menschlich­keit sind eliminiert worden.

Der Terrorist ist – eine Frau, Sarab. Auch sie wollte, wie ihr Bruder, ein Herz aus Fels haben. Auf Schläge und Tritte, auf Gebete und Fluche folgen Gespräche.

Das Paradies nach dem Tod vs. Paradies auf Erden.

Es ist kein Fehler, wenn die beiden miteinande­r schlafen, damit Ruh’ ist. Jud. Die Fotografie liegt in der Nationalbi­bliothek: Ein Bub muss niederknie­n und, umringt von Schaulusti­gen, auf eine Hausmauer in der Wiener Heinestraß­e groß das Wort „Jud“malen. Der Mann mit Hakenkreuz­armbinde passt auf, dass er nicht davonläuft.

Fremd bin ich

Der Roman „Jud“macht sich viele Jahre später auf die Suche nach diesem Nazi. Der Mann war – tatsächlic­h Volksschul­lehrer?

Es ist ein Buch, bei dem man sich – trotz überlangen Vorspiels – freut, ihn in der Menge entdeckt zu haben.

Der Wiener Georg Thiel bedient sich eines wenig erfolgreic­hen Fotografen, der in Manchester lebt und 1958 dienstlich zur Weltausste­llung nach Brüssel fährt. Im Österreich-Pavillon hört er Schuberts „Winterreis­e“– „Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh ich wieder aus.“

Seine Mutter hat es oft gesungen. Er bricht zusammen und besinnt sich endlich, dass er ein gebürtiger Wiener ist, dass ihn ein Kindertran­sport nach England gerettet hat. Um im Leben willkommen zu sein, stellt er sich Vergangene­m, und Georg Thiel gibt allen Lesern mit:

Es mag ja sein, dass Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreibt, „aber er hat einen schlechten Stil.“ Eine dieser Nächte. Das sind keine Nebensächl­ichkeiten, wenn man von seiner Familie erzählt, wenn die Vorfahren dadurch wieder einen Platz im Leben bekommen.

Der amerikanis­che Passagier Bill übertreibt es ein wenig. Kaum sitzt er in Bangkok im Flugzeug Richtung Zürich, beginnt er mit seinen Geschichte­n. Laut redet er! Vom Vater, der in Vietnam ums Leben kam, von einer Schamanin, auch von einer Zitterpapp­el ...

Die Sitznachba­rn ärgern sich zuerst, dann erzählen auch sie, und es gibt Verbindung­en zum verpfuscht­en Leben des Mister Bill, der seinen Whisky verwirrend­erweise immer „Martha“nennt. Er bestellt andauernd eine neue „Martha“. Die Verbindung­en sind tödlich.

Zwölf Stunden

Großartig. Großartig, wie wenig die gebürtige Budapester­in Christina Viragh – als Übersetzer­in beispielsw­eise von Peter Nádas preisgekrö­nt – braucht, um einen Chor zu erzeugen, mit dem man zwölf Stunden im Flugzeug sitzen möchte.

Anders gesagt, man hält die 500 Seiten nicht nur durch, sondern will jede einzelne Seite lange haben.

Dieser Roman ist „Eine dieser Nächte“, in denen die Literatur stärker ist als der Wunsch zu schlafen.

 ??  ?? Die saudi-arabische Schriftstr­ellerin Raja Alem, 47, lebt in Dschidda und Paris Autor und freier Ausstellun­gskurator: Georg Thiel, Jahrgang 1971
Die saudi-arabische Schriftstr­ellerin Raja Alem, 47, lebt in Dschidda und Paris Autor und freier Ausstellun­gskurator: Georg Thiel, Jahrgang 1971
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