Kurier (Samstag)

Warum Menschen nach Europa kommen

Flucht. Setzt die EU an der richtigen Stelle an?

- VON KAROLINE KRAUSE-SANDNER

In Deutschlan­d und in ganz Europa herrscht nach dem Spießruten­lauf Horst Seehofers eine allgemeine Verwirrung um den Asylkompro­miss. Der KURIER beantworte­t die wichtigste­n Fragen und hat sich umgehört, wie viel von der neuerstark­ten Abschrecku­ngspolitik Europas überhaupt in den Herkunftsl­ändern ankommt. Die Migrations­expertin Melita Sunjic erklärt, wie sich das Schlepperw­esen in den vergangene­n Jahren profession­alisiert hat und wie man den kriminelle­n Banden möglicherw­eise das Handwerk legen könnte. Ebenso wie ein Mitarbeite­r einer Hilfsorgan­isation in Niger und der ägyptische Außenminis­ter sagt sie dem KURIER, dass man die Probleme nur in den Herkunftsl­ändern lösen könne.

Die EU will „den Schleppern“das Handwerk legen. Laut aktuellen Zahlen von IOM sind heuer schon 1412 Menschen beim Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, gestorben. Das Todesrisik­o sei stark gestiegen, sagt die UNHCR. In deren Rahmen und mittlerwei­le auch selbststän­dig hat Melita Sunjic die Herkunftsl­änder bereist und mit Flüchtende­n, Fluchtwill­igen, der Diaspora in Europa und Schleppern gesprochen. KURIER: „Nach Europa kommt ihr nicht so leicht!“Kommt diese Message der EU an? Melita Sunjic: Man hört nur, was man hören will. Als voriges Jahr via CNN breit publik wurde, dass es in Libyen Sklavenhan­del gibt, hieß es in Afrika, dass das nur erfunden wurde, um abzuschrec­ken. Die Informatio­n allein ist es nicht. Die Quelle muss glaubwürdi­g sein. Das können nicht die „reichen Weißen“sein, sondern die eigenen Leute. Die Menschen, die schon in Europa sind, melden aber nicht immer die Wahrheit zurück?

Sie haben Erfolgsdru­ck. Oft hat ja die ganze Großfamili­e gezahlt, dass sie herkommen können. Da beschönige­n auch viele. Was fehlt in der Debatte?

Ich vermisse die Unterschei­dung zwischen Flüchtling­en und Migranten. Es ist ein Menschenre­cht, Asyl zu bekommen, wenn man verfolgt wird. Das ist auch Teil der politische­n DNA Europas. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn wir das aufgeben. Anderersei­ts gibt es keinen legalen Immigratio­nsmechanis­mus. In Afrika ist es durchaus üblich, dass man mal ein paar Jahre Geld verdienen und wieder zurückgehe­n will. Diese Menschen werden aber in den Asylkanal gedrängt. Dadurch wird das Asylsystem überlastet und verliert an Glaubwürdi­gkeit. Da muss man sich sozial was überlegen, politisch, wirtschaft­lich. Und man muss das Schlepperu­nwesen bekämpfen. Niemand kann mir einreden, dass es nicht möglich ist, die Geldflüsse zu stoppen. Welche Geldflüsse?

Das Geld, das an Schlepper gezahlt wird. Das wird ja meistens elektronis­ch überwiesen, in Afrika telefonisc­h. Man kennt die Schlepper, sie posten ja auch auf Facebook. Die sind so präsent?

Das ist nicht alles geheim. Die Kunden müssen sie ja finden. Interpol und Europol sind informiert. Reden wir von Mafiastruk­turen oder von Einzelkämp­fern?

Ich konnte nachweisen, dass sich nach dem Abschließe­n des EU-Türkei-Deals das Schlepperu­nwesen in wenigen Monaten vom opportunis­tischen Geldverdie­nen – etwa Fischer, die halt Boote hatten – zur voll entwickelt­en, internatio­nal organisier­ten Kriminalit­ät entwickelt hat. Früher waren die Angebote sehr unprofessi­onell, jetzt werden Flüge angeboten, gestohlene Papiere, Visa. Oft werden bestehende Schmuggler­netzwerke genutzt. Sagen Sie, je restriktiv­er die Politik in Europa geworden ist, desto organisier­ter wurde das Schlepperg­eschäft?

Ja. Und teurer und gefährlich­er. Man kann nicht einfach sagen: „Wir sperren die Routen.“Die kommen trotzdem. Sie werden sich aber noch mehr verschulde­n. Sagen die Schlepper tatsächlic­h Dinge wie: „Ihr werdet nur kurz im Boot sein, dann kommen die NGOs und retten euch“?

Ja. Aber Nichtrette­n kann nicht die Alternativ­e sein. Was stört Sie an der aktuellen Debatte am meisten?

Die Kurzsichti­gkeit und der Populismus. Außerdem: Wovon reden wir? 43.000 Menschen sind gekommen. Europa ist ein Konglomera­t von einer halben Milliarde der reichsten, gebildetst­en Menschen der Welt. Ich glaube nicht, dass die die Ankommende­n nicht ordentlich behandeln können. Für Hysterie ist wirklich kein Anlass. Man vergisst auch oft: 85 Prozent der Migranten bleiben ja in der Region.

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Sunjic: Türkei-Deal hat Schlepper profession­eller gemacht

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