Warum Menschen nach Europa kommen
Flucht. Setzt die EU an der richtigen Stelle an?
In Deutschland und in ganz Europa herrscht nach dem Spießrutenlauf Horst Seehofers eine allgemeine Verwirrung um den Asylkompromiss. Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen und hat sich umgehört, wie viel von der neuerstarkten Abschreckungspolitik Europas überhaupt in den Herkunftsländern ankommt. Die Migrationsexpertin Melita Sunjic erklärt, wie sich das Schlepperwesen in den vergangenen Jahren professionalisiert hat und wie man den kriminellen Banden möglicherweise das Handwerk legen könnte. Ebenso wie ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation in Niger und der ägyptische Außenminister sagt sie dem KURIER, dass man die Probleme nur in den Herkunftsländern lösen könne.
Die EU will „den Schleppern“das Handwerk legen. Laut aktuellen Zahlen von IOM sind heuer schon 1412 Menschen beim Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, gestorben. Das Todesrisiko sei stark gestiegen, sagt die UNHCR. In deren Rahmen und mittlerweile auch selbstständig hat Melita Sunjic die Herkunftsländer bereist und mit Flüchtenden, Fluchtwilligen, der Diaspora in Europa und Schleppern gesprochen. KURIER: „Nach Europa kommt ihr nicht so leicht!“Kommt diese Message der EU an? Melita Sunjic: Man hört nur, was man hören will. Als voriges Jahr via CNN breit publik wurde, dass es in Libyen Sklavenhandel gibt, hieß es in Afrika, dass das nur erfunden wurde, um abzuschrecken. Die Information allein ist es nicht. Die Quelle muss glaubwürdig sein. Das können nicht die „reichen Weißen“sein, sondern die eigenen Leute. Die Menschen, die schon in Europa sind, melden aber nicht immer die Wahrheit zurück?
Sie haben Erfolgsdruck. Oft hat ja die ganze Großfamilie gezahlt, dass sie herkommen können. Da beschönigen auch viele. Was fehlt in der Debatte?
Ich vermisse die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten. Es ist ein Menschenrecht, Asyl zu bekommen, wenn man verfolgt wird. Das ist auch Teil der politischen DNA Europas. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn wir das aufgeben. Andererseits gibt es keinen legalen Immigrationsmechanismus. In Afrika ist es durchaus üblich, dass man mal ein paar Jahre Geld verdienen und wieder zurückgehen will. Diese Menschen werden aber in den Asylkanal gedrängt. Dadurch wird das Asylsystem überlastet und verliert an Glaubwürdigkeit. Da muss man sich sozial was überlegen, politisch, wirtschaftlich. Und man muss das Schlepperunwesen bekämpfen. Niemand kann mir einreden, dass es nicht möglich ist, die Geldflüsse zu stoppen. Welche Geldflüsse?
Das Geld, das an Schlepper gezahlt wird. Das wird ja meistens elektronisch überwiesen, in Afrika telefonisch. Man kennt die Schlepper, sie posten ja auch auf Facebook. Die sind so präsent?
Das ist nicht alles geheim. Die Kunden müssen sie ja finden. Interpol und Europol sind informiert. Reden wir von Mafiastrukturen oder von Einzelkämpfern?
Ich konnte nachweisen, dass sich nach dem Abschließen des EU-Türkei-Deals das Schlepperunwesen in wenigen Monaten vom opportunistischen Geldverdienen – etwa Fischer, die halt Boote hatten – zur voll entwickelten, international organisierten Kriminalität entwickelt hat. Früher waren die Angebote sehr unprofessionell, jetzt werden Flüge angeboten, gestohlene Papiere, Visa. Oft werden bestehende Schmugglernetzwerke genutzt. Sagen Sie, je restriktiver die Politik in Europa geworden ist, desto organisierter wurde das Schleppergeschäft?
Ja. Und teurer und gefährlicher. Man kann nicht einfach sagen: „Wir sperren die Routen.“Die kommen trotzdem. Sie werden sich aber noch mehr verschulden. Sagen die Schlepper tatsächlich Dinge wie: „Ihr werdet nur kurz im Boot sein, dann kommen die NGOs und retten euch“?
Ja. Aber Nichtretten kann nicht die Alternative sein. Was stört Sie an der aktuellen Debatte am meisten?
Die Kurzsichtigkeit und der Populismus. Außerdem: Wovon reden wir? 43.000 Menschen sind gekommen. Europa ist ein Konglomerat von einer halben Milliarde der reichsten, gebildetsten Menschen der Welt. Ich glaube nicht, dass die die Ankommenden nicht ordentlich behandeln können. Für Hysterie ist wirklich kein Anlass. Man vergisst auch oft: 85 Prozent der Migranten bleiben ja in der Region.