Kurier (Samstag)

Es war genug Zeit, den Vater zu fragen, wer er wirklich ist

BÜCHER Endlich wieder ein großer italienisc­her Familienro­man, der bis Afrika reicht.

- VON PETER PISA

Als ihm zum ersten Mal so ein G’scheiter gesagt hat, dass wir alle einmal sterben müssen, war seine Antwort: „Alle, außer mir.“Neun war er damals. Jetzt ist Attilio Profeti 93. Er steht in Hausschlap­fen auf der Straße und weiß nicht, warum. Seine drei Söhne und seine Tochter erkennt er nicht mehr. Es wird schwierig, von ihm jetzt Antworten zu bekommen.

Es wäre genügend Zeit gewesen.

Tante

Zu seiner Tochter Ilaria Profeti , einer linksliber­alen römische Lehrerin, die seit vielen Jahren eine Affäre mit einem rechten Politiker hat ... großartige Nebenhandl­ung: Kann sie unter solchen Umständen denn überhaupt Sex haben? Ja, verzweifel­ten Sex! ... zu ihr war ein junger Afrikaner gekommen. „Wenn Attila Profeti dein Vater ist“, hat er gesagt, „dann bist du meine Tante.“

Ein Enkel des alten Familienpa­triarchen. Der Sohn eines uneheliche­n, geheim gehaltenen Sohn.

Und der Sohn? Tot.

Vater hatte über einen Mittelsman­n zu seiner Zweitfamil­ie in Afrika stets Kontakt gehalten. Und los geht’s:

„Alle, außer mir“ist ein lang ersehnter großer italienisc­her Familienro­man. Das ist und bleibt er – wenngleich die (man zögert – aber ja!) PERFEKTE Romanschri­ftstelleri­n Francesca Melandri auch Rom unter Berlusconi porträtier­t: als eine „maßlose Schöne, aus der es Scheiße regnet“.

Er bleibt Familienro­man – wenngleich es auch eine Flüchtling­sgeschicht­e ist. Äthiopien ist kein freies Land. Der junge Afrikaner kamüber den Sudan, die Sahara, Tripolius, das Mittelmeer, den Stiefel hinauf nach Rom in den 6. Stock zu Ilaria Profeti.

Dafür brauchte er drei Jahre. War Attilio in Addis Abeba, dauerte die Reise nicht einmal acht Stunden.

Alle f ließt aufs Schönste, Schlimmste und mündet in die Familienge­schichte ... auch der Kolonialis­mus, der eine große Rolle spielt.

Senfgas

Denn nie wurde aufgearbei­tet, was die Italiener bis 1947 in Eritrea und Somalia Grausames angerichte­t hatten. Dass in Abessinien (Äthiopien) bis zu 700.000 Menschen getötet wurde, zum Teil mit Senfgas, hat zu keinerlei Wiedergutm­achung geführt.

Berlusconi drehte bereits durch, als ihn ein ausländisc­her Journalist auf den Faschismus ansprach: Das sei lange Zeit her, und „eine Schande!“Nicht Mussolini. Sondern die Erinnerung daran sei „eine Schande“.

Das Land schweigt seit gut 70 Jahren, der Vater schwieg 70 Jahre.

„Papa, erinnerst du dich an Abeba?“– „Möchtest du noch ein Bonbon?“– „Sie war eine Frau.“– „Ach ja?“

Es wird noch Erschütter­ungen geben in der Familie Profeti. Man wird sie spüren. Und man wird Angst bekommen, selbst Fragen zu stellen bzw. nachzufors­chen.

Aber ...

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Die Römerin Francesca Melandri wurde mit „Eva schläft“bekannt
 ??  ?? Francesca Melandri: „Alle, außer mir“Übersetzt von Esther Hansen. Wagenbach Verlag. 608 Seiten. 26,80 Euros.
Francesca Melandri: „Alle, außer mir“Übersetzt von Esther Hansen. Wagenbach Verlag. 608 Seiten. 26,80 Euros.
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