Grandioser Appell zur Wachsamkeit
Franz Werfels „Cella“in der Dramatisierung von Nicolaus Hagg überzeugt bei den Festspielen Reichenau
Auch so kann Theater manchmal sein. Packend, verstörend, heutig und einfach nur extrem klug gemacht. Die Rede ist von Franz Werfels „Cella“bei den Festspielen Reichenau. Ein beklemmender, vielschichtiger Roman über den „Anschluss“Österreichs an Nazi-Deutschland, den Nicolaus Hagg famos für die Bühne adaptiert hat, den Regisseur Michael Gampepräzise, lakonisch und dennoch mit einem Gespür für Ironie (wosie passt) in Szene gesetzt hat. Parallelen zum aktuellen Zustand Europas klingen da mehr als deutlich an.
Der „Anschluss“
Worum geht es? Um die knapp 15-jährige Cella (eigentlich Cäcilie), die sich im Eisenstadt des Jahres 1938 als Klaviertalent erweist und vor ihrem ersten großen Konzert steht. Vor allem aber um Cellas – Hagg lässt die Titelfigur richtigerweise erst gar nicht auftreten – Familie, die in die politischen Wirren des so genannten „Anschlusses“hineingezogen wird.
Da ist Cellas Vater, der gutmütige jüdische Anwalt Dr. Bodenheim, der das Kommende nicht wahrhaben will. Cellas Mutter Gretl wie- derum sieht den NS-Terror voraus, möchte aber ein familiäres Geheimnis wahren.
Dazu kommen der noble, intellektuelle jüdische Industrielle Herr von Weil, der von einer Renaissance der Habsburgermonarchie träumende Oberstleutnant Grollmüller, der hellsichtige, versponnene Klavierprofessor Scherber, der zwischen den Zeiten stehende Prinz Ernst „Styxi“Esterházy, ein Kaplan, ein Einbrecher und vor allem der politisch und moralisch mehr als situationselastische Hochstapler Zoltan Nagy.
Virtuos verknüpft Hagg in seiner Fassung die persönlichen Schicksale mit dem Aufkeimen des Weltenbrandes – Politik und Privatleben verschmelzen zu einem zutiefst berührendem Panorama des Untergangs. Drastische (und sehr wichtige!) Appelle zur Wachsamkeit in der Gegenwart inklusive.
Und es sind die durch die Bank grandiosen Schauspieler, die in Peter Loidolts karger Ausstattung für eine atemlose Spannung sorgen. An der Spitze August Schmölzer als Bodenheim, demmehr und mehr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein Spielball des Schicksals mit ungewisser Zukunft.
Als Gretl ist Julia Stemberger ein famoser, jedoch nur vermeintlicher Ruhepol; sie ist ebenfalls von Angst getrieben. Auch André Pohl zeichnet einen überaus facettenreichen Herrn von Weil, bei Toni Slamas anfangs wehr- haftem Grollmüller geht vor allem die Selbstmordszene unter die Haut. Fast in Bernhard’esker Manier brilliert Martin Schwab als Scherber; David Oberkogler als „Styxi“und Sascha O. Weis als Nagy liefern intensive Charakterstudien ab. Philipp Stix (Kaplan) und Gerhard Roiss (Einbrecher) komplettieren tadellos. Ein Ereignis!