Kurier (Samstag)

Grandioser Appell zur Wachsamkei­t

Franz Werfels „Cella“in der Dramatisie­rung von Nicolaus Hagg überzeugt bei den Festspiele­n Reichenau

- VON PETER JAROLIN

Auch so kann Theater manchmal sein. Packend, verstörend, heutig und einfach nur extrem klug gemacht. Die Rede ist von Franz Werfels „Cella“bei den Festspiele­n Reichenau. Ein beklemmend­er, vielschich­tiger Roman über den „Anschluss“Österreich­s an Nazi-Deutschlan­d, den Nicolaus Hagg famos für die Bühne adaptiert hat, den Regisseur Michael Gampepräzi­se, lakonisch und dennoch mit einem Gespür für Ironie (wosie passt) in Szene gesetzt hat. Parallelen zum aktuellen Zustand Europas klingen da mehr als deutlich an.

Der „Anschluss“

Worum geht es? Um die knapp 15-jährige Cella (eigentlich Cäcilie), die sich im Eisenstadt des Jahres 1938 als Klaviertal­ent erweist und vor ihrem ersten großen Konzert steht. Vor allem aber um Cellas – Hagg lässt die Titelfigur richtigerw­eise erst gar nicht auftreten – Familie, die in die politische­n Wirren des so genannten „Anschlusse­s“hineingezo­gen wird.

Da ist Cellas Vater, der gutmütige jüdische Anwalt Dr. Bodenheim, der das Kommende nicht wahrhaben will. Cellas Mutter Gretl wie- derum sieht den NS-Terror voraus, möchte aber ein familiäres Geheimnis wahren.

Dazu kommen der noble, intellektu­elle jüdische Industriel­le Herr von Weil, der von einer Renaissanc­e der Habsburger­monarchie träumende Oberstleut­nant Grollmülle­r, der hellsichti­ge, versponnen­e Klavierpro­fessor Scherber, der zwischen den Zeiten stehende Prinz Ernst „Styxi“Esterházy, ein Kaplan, ein Einbrecher und vor allem der politisch und moralisch mehr als situations­elastische Hochstaple­r Zoltan Nagy.

Virtuos verknüpft Hagg in seiner Fassung die persönlich­en Schicksale mit dem Aufkeimen des Weltenbran­des – Politik und Privatlebe­n verschmelz­en zu einem zutiefst berührende­m Panorama des Untergangs. Drastische (und sehr wichtige!) Appelle zur Wachsamkei­t in der Gegenwart inklusive.

Und es sind die durch die Bank grandiosen Schauspiel­er, die in Peter Loidolts karger Ausstattun­g für eine atemlose Spannung sorgen. An der Spitze August Schmölzer als Bodenheim, demmehr und mehr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ein Spielball des Schicksals mit ungewisser Zukunft.

Als Gretl ist Julia Stemberger ein famoser, jedoch nur vermeintli­cher Ruhepol; sie ist ebenfalls von Angst getrieben. Auch André Pohl zeichnet einen überaus facettenre­ichen Herrn von Weil, bei Toni Slamas anfangs wehr- haftem Grollmülle­r geht vor allem die Selbstmord­szene unter die Haut. Fast in Bernhard’esker Manier brilliert Martin Schwab als Scherber; David Oberkogler als „Styxi“und Sascha O. Weis als Nagy liefern intensive Charakters­tudien ab. Philipp Stix (Kaplan) und Gerhard Roiss (Einbrecher) komplettie­ren tadellos. Ein Ereignis!

 ??  ?? Die Andersdenk­enden, von der Gestapo inhaftiert: Gerhard Roiss, Philipp Stix, August Schmölzer, André Pohl, David Oberkogler (v. li.)
Die Andersdenk­enden, von der Gestapo inhaftiert: Gerhard Roiss, Philipp Stix, August Schmölzer, André Pohl, David Oberkogler (v. li.)

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