Atomkraftwerk auf dem Domplatz
Kritik. Philipp Hochmair ist als „Jedermann“-Einspringer grandios
Womit kann man das vergleichen? Nach ein paar Stunden Vorbereitung die Jahrzehnte zurückliegende Mathe-Matura noch einmal rechnen, und zwar auf „Sehr gut“? In wenigen Stunden Dreisprung lernen und dann österreichischen Rekord springen? Nach einem Volkshochschulkurs für Teilchenphysik ein Atomkraftwerk fahren?
Philipp Hochmair erfuhr 30 Stunden vor der Aufführung, dass „Jedermann“Tobias Moretti nicht spielen kann, bekam eine Zehntelsekunde (so Schauspielchefin Bettina Hering) Nachdenkzeit und eine einzige Probe. Dann stand er schon auf dem ausverkauften Salzburger Domplatz – und spielte nicht etwa eine routinierte, weitgehend blechschadenfreie Vorstellung. Sondern brillierte, packte, faszinierte, gestaltete die Rolle, gab ihr einen eigenen Charakter und eine ganz merkwürdige Färbung.
Wer da dabei war, kann sich glücklich schätzen – das war eine Theatersternstunde, eine echte Sensation.
Die Vorgeschichte: Tobias Moretti hatte sich eine Lungenentzündung geholt (vermutlich beim Wechsel von der glühend heißen Bühne in einen klimatisierten Wagen) und konnte am Donnerstag nicht spielen – womöglich fällt er länger aus.
Nun DARF ein „Jedermann“einfach nicht ausfallen. Das oft belächelte „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ist DAS Prestigeobjekt in Salzburg, DIE Touristenattraktion und auch die Gelddruckmaschine der Festspiele. Also rief Bettina Hering Philipp Hochmair an, und der ist bekanntlich abenteuerlustig genug, sich auf so einen Irrsinn einzulassen.
Hochmair hat einen kleinen Startvorteil: Seit 2013 – die Premiere war in Salzburg – spielt er eine Rock-Solo-Version, „Jedermann reloaded“, allerdings in einer völlig anderen Textfassung, und nicht in gereimten Versen.
Keine Fehler
Katastrophentouristen wurden am Donnerstag bitter enttäuscht: Hochmair leistete sich keinen Ausstieg und keinen auffälligen Hänger. Manchmal wiederholte er einzelne Textphrasen, vermutlich war das ein vereinbartes Zeichen an die Souffleuse, ihm via Knopf im Ohr einzusagen. Ein paar Textsprünge und schlampige Anschlüsse gab es, aber das war: völlig wurscht.
Und zwar deshalb, weil Hochmair grandios spielte. Er gab keineswegs eine Kopie von Tobias Moretti ab, der den „Jedermann“eher als lebensgelangweilten Dandy zeigt. Hochmair spielt gierig, abgründig, manchmal teuflisch, dann wieder hat es den Eindruck, er würde gleich ein Achtel Blut schwitzen.
Seine Bekehrung und Begnadigung am Ende gehen sich wirklich nur aus, weil sich „Gute Werke“(hinreißend: Mavie Hörbiger) und „Glaube“(ein bisschen salbungsvoll: Johannes Silberschneider) bis zur totalen Erschöpfung ins Zeug legen.
Auch die Szenen mit „Buhlschaft“(Stefanie Reinsperger) gehen wunderbar auf, man hat den Eindruck, hier sind zwei Menschen, die umeinander ringen.
Hochmair passt wunderbar in die schlanke, stark verbesserte Inszenierung von Michael Sturminger. Die Höflichkeit verbietet es, einen direkten Qualitätsvergleich anzustellen. Aber sagen wir so: Salzburg hat jetzt zwei „Jedermänner“. Herzliche Genesungswünsche an Tobias Moretti.
Riesiger Jubel am Ende.