Kurier (Samstag)

„Bis sie uns den Grabstein zeigen“

„Samstagsmü­tter“wollen Aufklärung über Verschwind­en ihrer Angehörige­n / Ihre Märsche nun verboten

- AUS ISTANBUL HANS JUNGBLUTH

Fehmi Tosun wusste, dass sie hinter ihm her waren. Anfang der 1990er-Jahre, auf dem blutigen Höhepunkt des Krieges zwischen dem türkischen Staat und der Terrorgrup­pe PKK, kam der Familienva­ter aus dem südostanat­olischen Lice in Haft. Die Polizei hielt ihn für einen PKK-Kollaborat­eur, er wurde gefoltert und drei Jahre lang eingesperr­t. Nach seiner Freilassun­g zog Tosun mit seiner Familie nach Istanbul, doch es half ihm nichts. Eines Morgens standen Zivilpoliz­isten vor seiner Tür und zerrten ihn vor den Augen seiner Familie in einen wartenden Wagen. Seitdem wurde er nicht mehr gesehen. Seine Familie sucht ihn bis heute und fordert Aufklärung über sein Schicksal – doch die türkische Regierung will davon nichts wissen.

Tausende vermisst

Tosun ist einer von mehreren Tausend Menschen in der Türkei, die nach ihrer Festnahme spurlos verschwand­en. Dass Tosun keines natürliche­n Todes starb, ist so gut wie sicher. In den 1990er-Jahren ging der türkische Staat mit außergeric­htlichen Hinrichtun­gen undanderen brutalen Methoden gegen mutmaßlich­e PKKHelfer vor. Manche der Vermissten konnten später anhand von Knochen identifizi­ert werden, die in Gruben und Brunnen im Kurdengebi­et gefunden wurden. Tosun gehört nicht dazu.

Lebensrech­t „verletzt“

Bis vor das Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­t in Straßburg ist die Familie des Mannes gezogen, um endlich herauszube­kommen, was mit Tosun geschehen ist. In dem dortigen Prozess räumte die türkische Regierung unter dem damaligen Ministerpr­äsidenten und heutigen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan ein, dass Tosuns Recht auf Leben verletzt worden sei. Doch die Verantwort- lichen für seinen Tod wurden nie ermittelt.

Mahnwache

Tosuns Ehefrau Hanim und Tochter Besna wollen das nicht hinnehmen. Sie haben sich den sogenannte­n Samstagsmü­ttern angeschlos­sen, die sich seit Jahren jeden Samstag auf dem Galatasara­y-Platz an der Einkaufsst­raße Istiklal Caddesi in der Innenstadt von Istanbul zu einer Mahnwache versammeln. Mehrere Dutzend Frauen tragen Bilder ihrer vermissten Söhne, Brüder, Väter oder Onkel bei sich und machen auf das Unrecht aufmerksam, das ihnen angetan wurde.

Auch Ende August war Besna Tosun wieder dabei, als die 700. Versammlun­g der Samstagsmü­tter anstand. Noch bevor die Frauen den Platz erreichen konnten, marschiert­e aber die Polizei mit mehreren Hundertsch­aften, Wasserwerf­ern und Tränengas auf. Die Beamten drängten die Frauen und ihre Unterstütz­er ab und griffen dabei auch Parlaments­abgeordnet­e tätlich an: Der Politiker Garo Paylan wurde von einem Polizisten in den Würgegriff genommen. Besna Tosun und fast 50 weitere Kundgebung­steilnehme­r kamen vorübergeh­end in Polizeihaf­t.

Die Samstagsmü­tter hätten sich von der terroristi­schen PKK einspannen las- sen, erklärte Innenminis­ter Süleyman Soylu zur Begründung – und ließ die Mahnwachen der Frauen generell verbieten. Als sich die Samstagsmü­tter am 1. September erneut versammeln wollten, wurden sie von einem massiven Polizeiauf­gebot gleich in einer Seitengass­e abgeblockt. Fast gleichzeit­ig betonte die Regierung in Ankara ihre Entschloss­enheit, die Beziehunge­n zur EU wieder zu verbessern.

„Sie haben Angst“

Dass der türkische Staat so allergisch auf eine friedliche Mahnwache trauernder Frauen reagiert, liegt unter anderem an den Erfahrunge­n der Regierung mit Protesten. Fünf Jahre nach den Gezi-Unruhen, die nur einen Kilometer vom Galatasara­y-Platz entfernt ihren Anfang nahmen, fürchte die Regierung immer noch jede Demonstrat­ion, sagte Parlaments-Vizepräsid­ent Mithat Sancar von der prokurdisc­hen HDP, der zuletzt zur Unterstütz­ung der Samstagsmü­tter nach Istanbul gekommen war. „Sie haben Angst“, sagte Sancar über die Regierende­n in Ankara.

Soylus Demonstrat­ionsverbot passe zudem zum Hang des türkischen Staates, Verbrechen der Sicherheit­sbehörden möglichst stillschwe­igend unter den Teppich zu kehren, meint die Menschenre­chtlerin Eren Keskin. „Jede Regierung hat sich die Mentalität zu eigen gemacht, dass die Mörder nicht bekannt werden dürfen. Auch die derzeitige Regierung.“

„Wir machen weiter“

Hanim und Besna Tosun und die anderen Frauen wollen sich aber nicht einschücht­ern lassen. Trotz des Verbots wollen sie sich auch an diesem Samstag wieder zusammenfi­nden und an ihre Angehörige­n erinnern, wie Hanim Tosun betonte: „Wir machen weiter, bis sie Rechenscha­ft ablegen, die Geheimarch­ive öffnen und uns einen Grabstein zeigen.“

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Jeden Samstag versammeln sich die sogenannte­n Samstagsmü­tter und versuchen, zum Galatasara­y-Platz zu marschiere­n
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Polizei drängte die Kundgebung­steilnehme­rinnen ab

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