Kurier (Samstag)

Der zerrissene Kapitän

Theater in der Josefstadt.

- VON GUIDO TARTAROTTI

Herbert Föttinger brilliert in Kehlmanns „Reise der Verlorenen“.

Den stärksten Moment hat diese Aufführung ganz am Schluss. Die Darsteller treten an die Rampe und jede Figur berichtet, was aus ihr geworden ist: Im KZ ermordet, im Versteck überlebt, im Krieg gefallen, mit den Nazis kooperiert... Eine jüdische Frau sagt: „Ich hatte Glück. Ich bin gestorben.“

Dawird es ganz still im Zuschauerr­aum.

Daniel Kehlmann hat in seinem dritten Auftragswe­rk für das Theater in der Josefstadt ein Stück über die wahre Geschichte von 937 jüdischen Flüchtling­en geschriebe­n, die 1939 auf dem Schiff St. Louis den Nazis zu entkommen versuchten – die aber niemand aufnehmen wollte. Das Stück heißt „Die Reise der Verlorenen“, Basis war das Sachbuch „Reise der Verdammten“.

Kehlmann ist es merkbar wichtig, dass er reale Ereignisse schildert, immer wieder lässt er Figuren betonen, dass das, was sie gleich erzählen werden, wirklich so passiert ist, auch wenn es übertriebe­n erscheint.

Angedeutet­e Szenen

Kehlmann und Regisseur Janusz Kica setzen auf einer fast leeren, eine Schiffswan­d andeutende­n Bühne (Walter Vogelweide­r) auf „Dokumentar­theater“. Szenen werden meist nur angedeutet, immer wieder steigen die Schauspiel­er aus der Handlung aus und wenden sich, erklärend und erzählend, direkt ans Publikum. Dieser Stil ist dem Thema des Abends angemessen, er macht die Aufführung aber auch ein wenig statisch und, über knapp zwei Stunden, manchmal etwas zäh.

32 Schauspiel­er (und jede Menge Statisten) werden eingesetzt, um die verschiede­nen Schicksale anzureißen. Aus dem wirklich großartige­n Ensemble ragen zwei Personen heraus (sie haben aber auch die besten Rollen). Hausherr Herbert Föttinger spielt den Kapitän des Flüchtling­sschiffes, den es zwischen Pflichtbew­usstsein und Hilfsberei­tschaft schier zerreißt (und der nach dem Krieg nie wieder zur See fahren wollte). Und Raphael von Bargen ist als wirklich ganz besonders grausliche­r, bösartiger Nazi großartig.

Macht und Geld

Es ist Kehlmann hoch anzurechne­n, dass er nicht auf Schwarz-Weiß-Bilder setzt: Es findet keine Trennung in Engel und Teufel statt, jeder ist sich selbst der Nächste, es geht um Macht, denn Macht sichert das Überleben.

Dass diese Inszenieru­ng auf „Aktualisie­rungen“verzichtet, war eine richtige Entscheidu­ng. Man kann ohnehin nicht anders, als an die Gegenwart zu denken, wenn etwa im Stück Politiker erklären, warum man keine Flüchtling­e aufnehmen könne. Die Argumente haben sich nicht geändert.

Im Hintergrun­d steht immer das Geld. Alle wollen an den Flüchtling­en verdienen, sie selbst bleiben dabei über.

Am Ende, als der verzweifel­te Kapitän bereits erwägt, das Schiff vor England auf Grund zu setzen, kommt die Nachricht: England, Frankreich, Belgien und Holland sind bereit, die Juden aufzunehme­n. Eine letzte Lotterie ums Überleben: Wer nach Belgien, Holland oder Belgien kam, hatte kaum eine Chance. Der deutsche Blitzkrieg holte ihn schon bald ein.

Fazit: Ein beeindruck­endes Stück mit ein paar Längen, das sich bald geschmeidi­g einspielen wird. Großer Jubel vom Publikum, vor allem für Daniel Kehlmann.

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Großartig: „Kapitän“Herbert Föttinger (mit Nikolaus Barton)

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