Berge werden unterschätzt
Wanderer haben bessere Ausrüstung als früher, aber oft fehlen Kondition und Tourenplanung
Wandern. Mangelnde Kondition und Selbstüberschätzung führen zu immer mehr Rettungseinsätzen.
Ein Elfjähriger kauert auf einem Felsvorsprung und traut sich nicht über die Brücke, die 250 Meter über Grund hängt.
Eine Urlauberin löst am Klettersteig ihre Haken aus dem Seil und steigt nach unten, um ihr verlorenes Handy aufzuklauben. Dann sitzt sie fest, weil sie ohne Sicherung nichtweiterklettern kann. Apropos Mobiltelefon: Am Donnerstag verirren sich zwei Deutsche auf dem Dachstein in Steilgelände − sie haben dem GPS-Handy-Lotsen zu sehr vertraut.
Drei Einsätze der vergangenen paar Tage untermauern Einschätzungen der Bergretter: „Outdoor boomt. Das ist schön. Aber die Leute überschätzen sich oft und unterschätzen, dass am Berg halt ein gewisses Risiko gegeben ist“, sagt Stefan Hochstaffl, Präsident des Österreichischen Bergrettungsdienstes. Die Zahlen belegen: Die Bergretter mussten 2017 um 19 Prozent öfter ausrücken als 2016 (siehe Grafik).
Die Kondition fehlt
Woran liegt das? Jedenfalls nicht mehr an der mangelnden Ausrüstung, betont Christian Kräutler vom Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV). Ein KfV-Team sah 700 Wanderern und Bergsteigern auf die Füße: 70 Prozent trugen Bergschuhe, 20 Prozent gute Turnschuhe. „Aber vielen hat die Kondition gefehlt“, betont Kräutler. „Wenn ich das Jahr über keine zwei Stockwerke am Tag gehe, dann wird das im Urlaub beim Wandern konditionell ein Problem.“70 Prozent gaben bei der Befragung zu, vor der Tour kaum trainiert zu haben.
Bergretter Hochstaffl teilt diese Einschätzung. „Flip Flops auf den Bergen sind fast weg. Aber was nützt mir die beste Ausrüstung, wenn ich damit nicht umgehen kann?“Fehlende Kondition ist das eine, nicht vorhandene Planung das andere. Laut KfV schaut sich ein Viertel der Wanderer die Tour vorab nicht an, ein Drittel der Unfälle passiert auf nicht markierten Wegen: Die Leute verirren sich, vertrauen deminBergen oft verfänglichen GPS-Signal ihres Handys.
Das immer breiter werdende Angebot lockt. „Die Anzahl der Klettersteige hat sicher um 50 Prozent zugenommen“, schätzt Präsident Hochstaffl. Doch gerade dort würden Schwierigkeitsgrade wie Distanz oft unterschätzt. „Da gehen Leute, die ein bisserl in der Halle geklettert sind, auf Touren, die drei, vier, fünf Stunden dauern“, berichtet Hochstaffl. „Damit haben sie nicht gerechnet.“Dann klingelt es bei der Bergrettung, weil Erschöpfte abzuholen sind.
Der beliebteste Sport
Die Natur ist sexy geworden, auch für Jüngere: Wandern und Berggehen sind laut Umfrage des KfV die beliebstete Sportart, weit vor Radfahren und Schwimmen. Auf hochgerechnet 200 Millionen Wanderstunden kommen die Österreicher pro Jahr.
Doch da ergibt sich ein Paradoxon: Wandern werde als Sport betrachtet, aber als einer, der kaum Training brauche, wundert sich KfVExperte Kräutler. „Wandern klingt so harmlos wie Spazieren gehen im Dorf. Berge werden mehr unterschätzt, als einen Marathon zu laufen.“