Kurier (Samstag)

Zehn Flaschen Wein für „Entschädig­ungswürdig­e“

BÜCHER Der dritte große Roman gegen das Verdrängen von der deutschen Buchpreis-Siegerin .

- VON PETER PISA

Sie gilt als eine Archivarin des Verdrängte­n, den Blick ins Trostlose gerichtet

Das war so im Roman „Shanghai fern von wo“über Juden, denen die Flucht in asiatische Schlupflöc­her geglückt war ... „Nach Schanghai“(sagt einer). „Was? So weit?“„Weit von wo?“

Und in „Landgerich­t“, ausgezeich­net mit dem Deutschen Buchpreis 2012, kehren Kirchenglo­cken zurück, die nicht für den Krieg eingeschmo­lzen wurden. Die Leute jubeln. Ein vertrieben­er jüdischer Richter kehrt ebenfalls zurück. Er möchte wieder arbeiten. Freut sich jemand?

Gerupft

Jetzt lässt uns Ursula Krechel in die „Geisterbah­n“einsteigen. Ein Wort, das für die Schaustell­er steht.

Anderersei­ts passend fürs „Dritte Reich“und danach.

Die Opfer, die das KZüberlebt­en und in ihre Heimatstad­t Trier zurückkehr­ten – die Geburtssta­dt Krechels –, bekamen (sofern „entschädig­ungswürdig“): 100 Mark ... plus zehn Flaschen Wein, die sie umtauschen durften gegen Schuhe oder ein Bett.

„Geisterbah­n“ist die Geschichte der Sinti-Familie Dorn mit zehn Kindern, die in Trier lebte und arbeitete.

Dass sie auf Jahrmärkte­n für Unterhaltu­ng sorgten: sehr erwünscht. Dass sie musizierte­n, „Zigeunermu­sik“: wunderbar.

Aber die Menschen dahinter grenzt(e) man aus. Mit einem Mal durften sie, die Deutschen, keine „Deutschblü­tigen“heiraten; und zwangsster­ilisiert wurden die Frauen; und beschlagna­hmt wurde ihr Besitz inkl. Kinderbade­wanne ...

Krechels Romane bevölkern „gefundene Figuren“– in Akten gefundene. Sie baut Denkmäler wie Erich Hackl („Am Seil“), macht aber viel mehr noch dazu. Diesmal hat sie zu weit ausgeholt, bis zum Dirigenten Furtwängle­r müsste diese Geisterbah­n nicht fahren.

Sie legt mehr Gewicht auf die Sprache. Doch gelingen die besten Bilder, wenn sie sich aufs Dokumentie­ren beschränkt:

Etwa wenn politische Gefangene Gänse rupfen müssen, lebende Gänse, jede aus- gerissene Feder eine offene Wunde, die großen Wunden werden danach mit Zwirn genäht. Vier Mal im Jahr werden die Gänse gequält, nackt gemacht, verletzt, getötet.

Gerupfte Gänse, gerupfte Menschen. In der Volksschul­e sitzen nach 1945 der Sohn eines Nazi, die Tochter eines „Kummerl“und ein Sinti-Mädchen nebeneinan­der.

Trier ist sehr katholisch. Zum Kind, das nicht in die Kirche geht, sagt der Pfarrer: „Wer keine Religion hat, hat auch kein Gewissen.“

Wer Religion hat, kann durchaus als Mensch daneben liegen.

 ??  ?? Ihr Roman „Landgerich­t“wurde verfilmt: Ursula Krechel war vorher als Lyrikerin (nicht so) bekannt
Ihr Roman „Landgerich­t“wurde verfilmt: Ursula Krechel war vorher als Lyrikerin (nicht so) bekannt
 ??  ?? Ursula Krechel: „Geisterbah­n“Verlag Jung und Jung. 650 Seiten. 32 Euro.
Ursula Krechel: „Geisterbah­n“Verlag Jung und Jung. 650 Seiten. 32 Euro.
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