Kurier (Samstag)

Wut ist nicht nötig, Reform aber schon

Eine Gesellscha­ft im Stress hat keinen Nerv für Unpopuläre­s – und die Politik auch nicht.

- MARTINA SALOMON

In manchen Regionen Deutschlan­ds ist Sebastian Kurz derzeit deutlich beliebter als Angela Merkel: Nicht sie, sondern der österreich­ische Kanzler trat am Freitag mit Ministerpr­äsident Söder auf. CDU und CSU haben sich im Streit um die Migrations­politik gegenseiti­g beschädigt. Nach der Bayern-Wahl am Sonntag dürfte es ein mittleres politische­s Beben geben.

Doch die leise Schadenfre­ude, nun bald wieder im Ruf eines „besseren Deutschlan­ds“(© Stern 2005) zu stehen, sollten wir uns dringend verkneifen. Denn es mehren sich in ganz Europa die Abschwungs­ignale – und wenn Deutschlan­d Probleme hat, trifft das Österreich­s Wirtschaft mit Zeitverzög­erung. Auch wenn unser Land weiterhin Gott sei Dank von seinen Geschäften in Osteuropa profitiere­n wird, ist doch die Zeit des tollen Wirtschaft­swachstums bald vorbei.

Möglicherw­eise tanzen wir auf dem Vulkan. Es geht uns noch ziemlich gut, aber aggressive Unzufriede­nheit breitet sich (keineswegs nur hierzuland­e) aus wie eine Epidemie. Das spürt die Politik und lähmt sie. Abstiegsän­gste, ob berechtigt oder überzogen, haben weite Teile der Bevölkerun­g erfasst. Da geht es um Zuwanderun­gsdruck, der unsere Gesellscha­ft stark verändert hat; um Digitalisi­erung, die das Leben für Nicht-Digital Natives oft komplizier­ter statt einfacher macht und die noch viele Jobs kosten könnte; und um Globalisie­rung, die heimische Geschäftsz­weige ausradiert und uns abhängig macht von internatio­nalen Quasi-Monopolen. Das alles erzeugt Stress in der Gesellscha­ft. Und daher will auch niemand hören, dass Österreich (und noch viel, viel mehr Italien!) in guten Zeiten schon längst sein Budget strukturel­l in Ordnung hätte bringen, das gesetzlich­e Pensionsal­ter erhöhen und sich für den internatio­nalen Wettbewerb fitter hätte machen müssen.

Populismus ist überall zu finden

Politiker, die von ernsthafte­m Sparen und längerem Arbeiten sprechen, laufen aber Gefahr, Wahlen zu verlieren. Das weiß die Opposition und kampagnisi­ert zum Beispiel gegen eine flexiblere Arbeitszei­t unter dem Schlagwort „12-Stunden-Tag“. Doch der Populismus macht auch vor der Regierung nicht halt. Daher greift man zum Beispiel das Pensionsal­ter lieber nicht an, obwohl auch der neue Präsident des Fiskalrats, Gottfried Haber, diese Woche kritisiert hat, dass Österreich eines der wenigen Länder in Europa sei, das keine oder nur wenige „Stabilität­smechanism­en“eingeführt hat. Er mahnt zu Recht Vorschläge für die Pflegevers­icherung ein und findet, dass für die 2020 geplante Steuerrefo­rm erst budgetärer Spielraum geschaffen werden muss.

Wenn der Ratsvorsit­z Österreich­s vorbei ist, gehen wir in Richtung EU-Wahl. Wieder kein guter Zeitpunkt für Unpopuläre­s. Dabei leben wir im wohlhabend­sten, sozial gerechtest­en Teil der Welt. Es gibt keinen ernsthafte­n Grund für Wut. Aber viele Gründe für (weitere) Reformen. Wer das nicht einsieht, ist blind und versündigt sich an der Zukunft. eMail an: martina.salomon@kurier.at auf Facebook folgen: martina salomon

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria