Kurier (Samstag)

Flucht zurück nach Österreich

Eine Familie aus Venezuela erzählt vom dortigen Chaos und der Chancenlos­igkeit

- VON KONRAD KRAMAR

Es war nicht das tägliche Schlangest­ehen für Brot oder Klopapier, waren nicht die Einschücht­erungs- und Erpressung­sversuche durch die Polizei. Nicht einmal die Männer, die ihm im eigenen Garten die Pistole an die Schläfe hielten, hätten Daniel Spitaleri aus Venezuela vertrieben. „Du kannst dir nicht vorstellen, deine Heimat zu verlassen“, schildert der Mittvierzi­ger seine Gedanken, „und deshalb findest du dich mit allem irgendwie ab“.

Irgendwann aber ging es nicht mehr um alltäglich­e Sorgen, sondern um sein Augenlicht. Daniel ist GlaukomPat­ient. Die Medikament­e, die er braucht, sind Standard, weltweit erhältlich – nicht aber in Venezuela. „Nicht nur meine Augentropf­en, fast alle Medikament­e sind nicht mehr zu bekommen, Antibiotik­a, Blutdruckm­ittel, auch wenn du bereit bist, Fantasiepr­eise auf dem Schwarzmar­kt zu bezahlen.“Als klar war, dass Daniel innerhalb weniger Tage blind sein würde, kratzte die Familie Spitaleri die letzten Reserven an kostbaren Devisen für die Flugticket­s zusammen und trat über Nacht die Reise nach Österreich an. Dass die drei – mit Daniel sind Ehefrau Xiomara und Tochter Laura gekommen – jetzt in Wien dem KURIER ihre Geschichte erzählen können, hat Daniel seiner Mutter zu verdanken. Sie stammt aus Österreich, ist vor 40Jahren nachVenezu­ela ausgewande­rt.

Daniel ist dort groß geworden, hat aber auch Jahre in Österreich verbracht, hat einen österreich­ischen Pass. Er ist trotzdem 2006 in seine lateinamer­ikanische Heimat und zu seiner dortigen Familie zurückgeke­hrt: mit einer soliden Ausbildung als Maschinenb­autechnike­r und großen Plänen. Er wollte in die Erdölindus­trie, dort suchte man Fachkräfte wie ihn. Doch unter der sozialisti­schen Diktatur von Hugo Chavez (1999–2013) tickten die Uhren in Venezuela rasch anders – und da waren Bürgerlich­e wie Daniels Fa- milie fehl am Platz, vor allem weil einige in der Wirtschaft­skammer des Landes aktiv waren – und die passte dem Regime nicht.

„Die Militärs haben in den Firmen die Kontrolle übernommen“erinnert sich Daniel, „auf einmal galten Leute wie wir als innere Feinde“. Das Regime habe konsequent wichtige Posten mit Günstlinge­n besetzt, „da war es egal, ob die eine Ausbildung hatten“. Die Experten musste man ohnehin nicht rauswerfen, die gingen freiwillig – ins benachbart­e Ausland, wo die dortige Erdölindus­trie sie gut brauchen konnte.

Zweimal entführt

Daniel blieb, baute sich eine Existenz auf. In Wien hatte er als Pizzabäcke­r gearbeitet, in Venezuela eröffnete er seine eigene Pizzeria, bald waren es drei. Das Geschäft lief gut, und mit der Diktatur konnte man sich irgendwie arrangiere­n. „Klar war Korruption Alltag“, gesteht er ein, „aber mit der Unverschäm­theit der Behörden, lernst du umzugehen“.

Der endgültige Absturz des Systems in Chaos, Not und bürgerkrie­gsähnliche Zustände kam mit Chavez’ Tod und der Machtübern­ahme durch seinen politische­n Zögling Nicolas Maduro 2013. Von da an mussten die Spitaleris täglich kämpfen, um nicht mitgerisse­n zu werden.

Spital nur mit Dollars

Bald musste das Mehl für die Pizza aus dem benachbart­en Brasilien herangesch­afft werden, weil die Betriebe im Land nicht mehr lieferten. Die wachsende Not ließ die Kriminalit­ät eskalieren. Auch in den besseren Vierteln, wie dem, wo die Familie wohnte, wurden Entführung­en zur täglichen Bedrohung.

Daniel erwischte es zweimal. Er kam mit Glück frei. Eines Tages standen die Gangster bei ihm im Garten. Während man ihm die Pistole an die Schläfe hielt, wurde das Haus ausgeräumt.

Krankenhäu­ser, in denen man nur mit Dollars auf der Hand und mitgebrach­ten Injektions­spritzen aufgenomme­n wird; Geld, das man heute verdient und um das man morgen nichts mehr kaufen kann, „weil es weniger wert ist als das Papier, auf demesgedru­ckt ist“: In den Erzählunge­n werden Chaos und Not, in denen Venezuela gerade untergeht, greif bar. Sie werden Teil eines Alltags, „in dem du jeden Tag glaubst, du schaffst es nicht mehr – und dann geht es irgendwie weiter, weil es muss“. Vor drei Monaten ging es für die Spitaleris nicht mehr. Wie lange es noch für Venezuela geht? „Wir können nur warten und hoffen, dass die Welt aufwacht und diesen Wahnsinn stoppt.“

 ??  ?? Zehntausen­de Venezolane­r flüchten zu Fuß über die Grenze in Nachbarlän­der wie Brasilien
Zehntausen­de Venezolane­r flüchten zu Fuß über die Grenze in Nachbarlän­der wie Brasilien
 ??  ?? Keine Medikament­e, keine Sicherheit, keine Zukunft: Familie Spitaleri musste nach Wien flüchten
Keine Medikament­e, keine Sicherheit, keine Zukunft: Familie Spitaleri musste nach Wien flüchten

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