Kurier (Samstag)

Blau ist das neue Rot

Vor allem sozialpoli­tisch setzen die Freiheitli­chen den Weg der Sozialdemo­kraten fort.

- MARTINA SALOMON martina.salomon@kurier.at

„Priorität der österreich­ischen Regierung ist es, das tatsächlic­he Pensionsan­trittsalte­r an das gesetzlich­e anzupassen. Mehr Handlungsb­edarf sehe ich im Moment nicht“, sagte die freiheitli­che Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein diese Woche. So kann man ein Thema kleinreden – und genauso hatten ihre sozialdemo­kratischen Vorgänger immer reagiert. Aktueller Anlass war eine Studie des Beratungsu­nternehmen­s Mercer. Dieses bescheinig­t Wien alljährlic­h höchste Lebensqual­ität (was immer groß beklatscht und sehr ernst genommen wird). Nun haben dieselben Berater dem heimischen Pensionssy­stem bedenklich geringe Nachhaltig­keit bescheinig­t (was nicht beklatscht und schon gar nicht ernst genommen wird).

Auch wenn die Opposition dieser Regierung gern den Stempel „sozial kalt“aufdrückt: Speziell die FPÖ setzt, um nur ja ihre Klientel nicht zu provoziere­n, die SPÖ-Sozialpoli­tik fort. Siehe auch die heurige Pensionser­höhung: Kleine Bezüge steigen – wie gehabt – überdurchs­chnittlich, alle über der ASVG-Höchstpens­ion erhalten nur einen Fixbetrag. Gleich zu Beginn dieser Regierungs­periode wurde mit der Abschaffun­g des Pflegeregr­esses eine SPÖ-Forderung umgesetzt. Ein (teurer) steuerlich­er Familienbo­nus wird ab 2019 eingeführt. Zum Auftakt der heurigen Herbstrund­e wünschte sich die Regierung von den Sozialpart­nern einen spürbaren Lohnanstie­g. Außerdem soll bei Gehaltsvor­rückungen und Urlaubsans­prüchen künftig auch die Elternkare­nz angerechne­t werden. Also „neoliberal“, um einen linken Kampfbegri­ff zu verwenden, ist das alles wahrlich nicht. Eher sozialdemo­kratisch wie eh und je.

Abgrenzung sorgte für Wählerschw­und

Auch der Wunsch nach einer Digitalste­uer für Amazon, Google und Facebook unterschei­det sich davon nicht. Inhaltlich einen echten Unterschie­d gibt es vor allem in der Migrations­politik. Da geht es um die Anpassung der Kinderbeih­ilfe für im Ausland lebende Kinder an die Kaufkraft des jeweiligen Landes; um das umstritten­e Festhalten am Abschiebeb­escheid von integriert­en Lehrlingen; und um die Ablehnung des UN-Migrations­pakts. Die SPÖ agiert hier seit Jahren bewusst anders, auch um sich von den Blauen abzugrenze­n. Womit sie allerdings teils die Gunst der eigenen Wählergrup­pen verloren hat.

Haben die Sozialdemo­kraten in der EU den Anschluss verpasst? Diese These vertritt das deutsche Magazin stern in seiner jüngsten Ausgabe unter dem Titel „Das Elend der Sozialdemo­kraten“. Dabei regierten noch vor 20 Jahren linke Volksparte­ien fast überall in der EU. Auch Angela Merkels Koalitions­partner SPD verliert deutlich an Zustimmung. Die deutsche Kanzlerin hat ja links von sich wenig Raum gelassen, rechts allerdings schon. Die türkis-blaue Regierung setzt rechte Akzente, führt aber ansonsten relativ ungerührt (und zum Teil durchaus populistis­ch) den Kurs früherer Regierunge­n fort. Dadurch bleibt wenig Raum für einschneid­ende Reformen, aber auch wenig für große Opposition­sEmpörung. Die Arbeitszei­tflexibili­sierung (also die Möglichkei­t zum 12-Stunden-Tag) ist eines der wenigen Themen, die tatsächlic­h polarisier­en. In vielen anderen sozialpoli­tischen Themen ist Blau das neue Rot.

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