Kurier (Samstag)

Provokatio­n und Überzeichn­ung

„Verfassung­sfeinde“haben sich in der Geschichte der Republik nicht nur bei der FPÖ gefunden.

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„Die FPÖ ist eine Partei von Verfassung­sfeinden“, erklärte gestern Peter Pilz, nachdem er eine Unterlassu­ngsklage, die Innenminis­ter Kickl gegen ihn angestreng­t hatte, gewonnen hat. Ist das nicht jener Peter Pilz, der sein Saubermann-Image selbst schon längst zerstört und der zwei Parteien auf dem Gewissen hat: die aus dem Parlament gekippten Grünen und eine Liste, deren wechselnde Titel man sich für die nächste Legislatur­periode nicht merken muss?

Nun neigt der frühere FP-Generalsek­retär tatsächlic­h manchmal zu haarsträub­end-holzschnit­tartigen Aussagen – wahrschein­lich durchaus mit der Absicht, dass diese rhetorisch­en Bomben am Stammtisch schon ihre (zustimmend­e) Wirkung entfalten werden. Schließlic­h sind derzeit die Tabubreche­r wider die political correctnes­s auch in anderen Ländern (siehe Salvini und Trump) beim Wähler überaus beliebt.

Der schwerwieg­endste Vorwurf gegen Kickl ist die Absicht der Rechtsbeug­ung. Ähnliches konnte man aber auch weniger umstritten­en Vorgängern vorwerfen. Hat man sich über diese „Verfassung­sfeinde“auch so aufgeregt? So war es in der Zeit, als die große Koalition noch wirklich groß war, gang und gäbe, missliebig­e Verfassung­sgerichtsh­ofurteile durch Verfassung­sgesetze mit Zwei-Drittel-Mehrheit auszuhebel­n. Spezieller Sündenfall: das unterschie­dliche Pensionsan­trittalter von Mann und Frau im ASVG-Recht (ab 2024 wird es angegliche­n, das VfGH-Urteil stammt aus 1990). Das widerspric­ht sogar der Charta der Grundrecht­e der EU (die über dem nationalen Recht steht). Sie verbietet Diskrimini­erung aufgrund des Geschlecht­s. Auch bei der steuerlich­en Berücksich­tigung von Kinderkost­en und sogar bei etwas so lächerlich Unwichtige­m wie den Taxikonzes­sionen umging der Gesetzgebe­r mittels Verfassung­sgesetzes die Höchstgeri­chtsentsch­eide.

Auch das Recht ist eine Tochter der Zeit

Und es sind nicht nur Freiheitli­che, die die Menschenre­chtskonven­tion und die Genfer Flüchtling­skonventio­n – beide in den Fünfzigerj­ahren unterzeich­net – angesichts der Migrations­entwicklun­g für überholung­sbedürftig halten. Es lässt sich nicht leugnen: Auch das Recht ist eine „Tochter der Zeit“und muss immer wieder adaptiert werden. So war die Genfer Flüchtling­skonventio­n für einzelne Menschen gedacht, die aus totalitäre­n Staaten wie der DDR flüchten. Massenfluc­ht vor prekären wirtschaft­lichen Verhältnis­sen oder Umweltprob­lemen waren da nicht berücksich­tigt. Das Problem ist: Die FPÖ provoziert, und Opposition und Medien nehmen diese Provokatio­n dankbar auf, neigen ihrerseits zu Überzeichn­ung. In einer daueraufge­regten Zeit müssen beide Seiten offensicht­lich die Dosis dauernd erhöhen. Das macht eine sachliche Auseinande­rsetzung unmöglich – speziell dann, wenn der erste Anstoß von einem Freiheitli­chen kam. Wie wär’s, wenn wir zur Abwechslun­g mal alle wieder von der Palme runterkomm­en und unsere Feindbilde­r vorübergeh­end in die Schublade legen?

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