Kurier (Samstag)

Wo der Bub den Vater verhaften will

Armenien. Bittere Armut lähmt weite Teile des Landes. Die Caritas hilft besonders hart betroffene­n Familien

- AUS GJUMRI STEFAN SCHOCHER

Eine Seitengass­e in einem Vorort, kleine Häuser, klirrende Kälte, ein kleines Feuer in einem Herdofen, zwei Zimmer, kahle Wände. Dazwischen ein kleiner Christbaum und ein Vogelkäfig mit zwei Wellensitt­ichen. Lyova hat gerade seinen Neffen Gregori von der Schule abgeholt. Zehn Jahre ist der alt. Ihre Jacken ziehen sie nicht aus im Vorraum. Auch nicht im Wohnzimmer. Ihre Schuhe lassen sie an. Gregori rennt zum Käfig und begrüßt freudestra­hlend die Sittiche.

„Es war ein gutes Haus“, sagt die 60-jährige Vard, Lyovas Mutter und Gregoris Großmutter. Das war einmal. Bevor ein dem Schnaps verfallene­r Onkel es verwüstete, Mauern niederriss und den Boden verheizte. Ein kleiner Vitrinensc­hrank mit einigen alten Gläsern erinnert an bessere Zeiten. Heute leben Vard, ihre Kinder Lyova und Manuschak sowie Manuschaks Sohn Gregori hier. Das, was von dem Gebäude übrig ist, ist alles, was sie besitzen.

Georgi hat seine Schultasch­e auf einen kleinen Schemel gestellt. Polizist will er werden, „um ihn zu verhaften“, sagt er. Er meint seinen Vater, den er nie als Vater bezeichnet und dessen Namen er nie ausspricht. Nur von „ihm“spricht er, vor dem es seine Mutter zu beschützen gelte. Die 32-jährige Manuschak schweigt. Dann sagt sie: „Er ist gekommen, hat gegessen, aber vor allem getrunken von dem Geld, das wir verdient haben.“Schweigen.

Beben, Krise, Armut

Gjumri hat eine lange Geschichte mit vielen Höhen. Aber es ist eine tiefe Ebene, in der sich die Stadt derzeit befindet. 1988 wurde sie vom Erdbeben schwer zerstört, dann kam der Fall der Sowjetunio­n und damit der Niedergang der lokalen Industrie. Arbeitslos­igkeit und Abwanderun­g warendie Folge. Etwas Geld f ließt über eine russische Militärbas­is in die Stadt. In der gesamten Region aber liegt die Arbeitslos­igkeit offiziell bei umdie 20 Prozent. Andere Schätzunge­n gehen von bis zu 70 Prozent aus. Rund 50 Prozent in der Region leben unter der Armutsgren­ze. 300 Menschen bewohnen noch Behelfsunt­erkünfte, die nach dem Beben errichtet wurden – die zerfallen aber bereits.

Die Region ist die ärmste Armeniens – eines Landes, das mehr Bürger außerhalb seiner Grenzen zählt als innerhalb. Es mangelt an Jobs. Lyova ist leicht sehbehinde­rt, Manuschak hat keine Ausbildung. Arbeit gibt es bestenfall­s tageweise. Weggehen können sie nicht, weil sie sich um ihre Mutter kümmern. Von deren Pension leben sie: Umgerechne­t um die 40 Euro. Eine Herausford­erung ist es schlicht, Gregori einigermaß­en sattzubeko­mmen. Etwas Hilfe kommt von der Caritas, die mit Heizkosten­zuschüssen, warmer Kleidung und auch Nahrung immer wieder hilft.

In der Hauptstadt Erewan hat Arbeits- und Sozialmini­sterin Zaruhi Batoyan gerade eben ihr Amt angetreten nach der Revolution im Vorjahr und den darauffolg­enden Wahlen. Die neue Regierung kann dabei auf eine breite Mehrheit zählen. 70 Prozent der Wähler haben für das Bündnis „Mein Schritt“unter Premier Pashinjan gestimmt. Was die Sozialmini­sterin vorhat, ist nicht weniger als ein Totalumbau. Zunächst will sie die Bürger mehr einbinden. Denn, so sagt die Ministerin beim Besuch einer CaritasDel­egation: „Bürger, die eingebunde­n sind, sind informiert, und informiert­e Bürger haben realistisc­he Erwartunge­n.“Dann soll ein kompletter Umbau des Sozialsyst­ems stattfinde­n. Dabei ist ihr klar: Dazu braucht es internatio­nale Hilfe und vor allem Geld. Dazu braucht es aber auch den Glauben der Menschen an die Reformen. Glaube und Hoffnung sind vielfach zu spüren im Land.

An Lyova, Vard und Manuschak dagegen ist die Revolution vorbeigezo­gen. „Ich glaube nicht an Veränderun­gen“, sagt Lyova, der kaum eine Miene verzieht und bestenfall­s ein schüchtern­es Lächeln andeutet. Er hat sich abgefunden mit seinem Dasein, hat keine Erwartunge­n mehr an sein Leben. Er mit seinen gerade einmal 21 Jahren. Draußen hat es minus 15 Grad, es geht ums blanke Überleben. Nur eines ist ihr aller Ziel: Gregori soll so etwas wie eine Kindheit und es einmal besser haben.

Gregori wuselt indes um den Käfig, lockt die Vögel. Lyova blickt durch seine dicken Brillen auf den Jungen, streichelt ihn an der Schulter – und strahlt mit einem Mal über das ganze Gesicht.

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Gregori und seine Vögel – die zwei Zimmer des Hauses sind kaum zu heizen, die Familie überlebt von einem Tag auf den anderen

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