Wo der Bub den Vater verhaften will
Armenien. Bittere Armut lähmt weite Teile des Landes. Die Caritas hilft besonders hart betroffenen Familien
Eine Seitengasse in einem Vorort, kleine Häuser, klirrende Kälte, ein kleines Feuer in einem Herdofen, zwei Zimmer, kahle Wände. Dazwischen ein kleiner Christbaum und ein Vogelkäfig mit zwei Wellensittichen. Lyova hat gerade seinen Neffen Gregori von der Schule abgeholt. Zehn Jahre ist der alt. Ihre Jacken ziehen sie nicht aus im Vorraum. Auch nicht im Wohnzimmer. Ihre Schuhe lassen sie an. Gregori rennt zum Käfig und begrüßt freudestrahlend die Sittiche.
„Es war ein gutes Haus“, sagt die 60-jährige Vard, Lyovas Mutter und Gregoris Großmutter. Das war einmal. Bevor ein dem Schnaps verfallener Onkel es verwüstete, Mauern niederriss und den Boden verheizte. Ein kleiner Vitrinenschrank mit einigen alten Gläsern erinnert an bessere Zeiten. Heute leben Vard, ihre Kinder Lyova und Manuschak sowie Manuschaks Sohn Gregori hier. Das, was von dem Gebäude übrig ist, ist alles, was sie besitzen.
Georgi hat seine Schultasche auf einen kleinen Schemel gestellt. Polizist will er werden, „um ihn zu verhaften“, sagt er. Er meint seinen Vater, den er nie als Vater bezeichnet und dessen Namen er nie ausspricht. Nur von „ihm“spricht er, vor dem es seine Mutter zu beschützen gelte. Die 32-jährige Manuschak schweigt. Dann sagt sie: „Er ist gekommen, hat gegessen, aber vor allem getrunken von dem Geld, das wir verdient haben.“Schweigen.
Beben, Krise, Armut
Gjumri hat eine lange Geschichte mit vielen Höhen. Aber es ist eine tiefe Ebene, in der sich die Stadt derzeit befindet. 1988 wurde sie vom Erdbeben schwer zerstört, dann kam der Fall der Sowjetunion und damit der Niedergang der lokalen Industrie. Arbeitslosigkeit und Abwanderung warendie Folge. Etwas Geld f ließt über eine russische Militärbasis in die Stadt. In der gesamten Region aber liegt die Arbeitslosigkeit offiziell bei umdie 20 Prozent. Andere Schätzungen gehen von bis zu 70 Prozent aus. Rund 50 Prozent in der Region leben unter der Armutsgrenze. 300 Menschen bewohnen noch Behelfsunterkünfte, die nach dem Beben errichtet wurden – die zerfallen aber bereits.
Die Region ist die ärmste Armeniens – eines Landes, das mehr Bürger außerhalb seiner Grenzen zählt als innerhalb. Es mangelt an Jobs. Lyova ist leicht sehbehindert, Manuschak hat keine Ausbildung. Arbeit gibt es bestenfalls tageweise. Weggehen können sie nicht, weil sie sich um ihre Mutter kümmern. Von deren Pension leben sie: Umgerechnet um die 40 Euro. Eine Herausforderung ist es schlicht, Gregori einigermaßen sattzubekommen. Etwas Hilfe kommt von der Caritas, die mit Heizkostenzuschüssen, warmer Kleidung und auch Nahrung immer wieder hilft.
In der Hauptstadt Erewan hat Arbeits- und Sozialministerin Zaruhi Batoyan gerade eben ihr Amt angetreten nach der Revolution im Vorjahr und den darauffolgenden Wahlen. Die neue Regierung kann dabei auf eine breite Mehrheit zählen. 70 Prozent der Wähler haben für das Bündnis „Mein Schritt“unter Premier Pashinjan gestimmt. Was die Sozialministerin vorhat, ist nicht weniger als ein Totalumbau. Zunächst will sie die Bürger mehr einbinden. Denn, so sagt die Ministerin beim Besuch einer CaritasDelegation: „Bürger, die eingebunden sind, sind informiert, und informierte Bürger haben realistische Erwartungen.“Dann soll ein kompletter Umbau des Sozialsystems stattfinden. Dabei ist ihr klar: Dazu braucht es internationale Hilfe und vor allem Geld. Dazu braucht es aber auch den Glauben der Menschen an die Reformen. Glaube und Hoffnung sind vielfach zu spüren im Land.
An Lyova, Vard und Manuschak dagegen ist die Revolution vorbeigezogen. „Ich glaube nicht an Veränderungen“, sagt Lyova, der kaum eine Miene verzieht und bestenfalls ein schüchternes Lächeln andeutet. Er hat sich abgefunden mit seinem Dasein, hat keine Erwartungen mehr an sein Leben. Er mit seinen gerade einmal 21 Jahren. Draußen hat es minus 15 Grad, es geht ums blanke Überleben. Nur eines ist ihr aller Ziel: Gregori soll so etwas wie eine Kindheit und es einmal besser haben.
Gregori wuselt indes um den Käfig, lockt die Vögel. Lyova blickt durch seine dicken Brillen auf den Jungen, streichelt ihn an der Schulter – und strahlt mit einem Mal über das ganze Gesicht.