Kampf um die erste Wahl
Am 4. Juni 1913 erreichte der Frauenrechtskampf international gesehen den Höhepunkt: Als das Derby in Epsom in Anwesenheit der königlichen Familie begann, überwand Emily Davidson die Absperrung und stellte sich mit wehender Fahne dem galoppierenden Hengst von König George V. in den Weg. Im Augenblick des Aufpralls rief sie „Suffrage!“(„Wahlrecht!“). Ihr Schädel brach, sie starb wenig später. Auf ihren Grabstein schrieb man „Taten statt Worte“. England war das einzige Land, in dem sich eine derart militante Frauenrechtsbewegung entwickelte.
In Österreich schlossen sich Frauen eher in Frauenstimmrechtsvereinen zusammen, überreichten Petitionen und demonstrierten. Unterstützung? Fehlanzeige: Für die Sozialdemokratie war das Männerwahlrecht vordringlich, auch weil man fürchtete, dass Frauen konservativ wählen würden. 1892 nahm man die Forderung nach dem Frauenstimmrecht aber doch ins Programm auf; in der Praxis erklärte der Parteivorsitzende, Victor Adler, den Einsatz für das Frauenwahlrecht aber zur „politischen Torheit“.
Ab 1907, als das allgemeine Männerwahlrecht durchgesetzt war, machten sie wieder Druck. Mit Slogans wie Heraus mit dem Frauenwahlrecht und Gleiches Recht für Mann und Weib riefen sie zu Demonstrationen auf. Am 19. März 1911 gingen 20.000 Frauen und Männer für das Frauenwahlrecht auf die Straße.
Der Erste Weltkrieg markierte in vielen Ländern eine Zäsur, die die alte Ordnung infrage stellte und die Frauen mobilisierte, sagt die Historikerin Gabriella Hauch: „Damals begann eine umfassende, alle Schichten durchdringende Diskussion über das Frauenwahlrecht, das sie sich in weiten Teilen Europas dann auch zwischen 1918 und 1922 erstritten.“
Österreich war unter den Vorreitern. Hauch: „Meiner Meinung nach ist es signifikant, dass in den sogenannten Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs Frauen das Wahlrecht zuerst bekommen haben.“Subtext: Wir wollen es besser machen! Die Journalistin Maria Tausk etwa forderte: „Wir Frauen dürfen den Augenblick, da alles ge- lockert ist und sich zu neuen Formen erst fügen will, nicht versäumen.“Im Herbst 1918, als das alte Regime am Abgrund stand, machten die Frauen mithilfe der zweiwöchentlich erscheinenden Arbeiterinnen-Zeitung so großen Druck, dass das Frauenwahlrecht nicht mehr zu verhindern war.
Ein Chanson von Friedrich Hollaender zeigt die Stimmung unter den Frauen nach dem Ersten Weltkrieg: Raus mit den Männern aus dem Reichstag, und raus mit den Männern aus dem Landtag, und raus mit den Männern aus dem Herrenhaus, wir machen draus ein Frauenhaus!. „Damals haben Frauen laut darüber nachgedacht, ob die Männer nach der Katastrophe des Weltkriegs über- haupt noch das Recht haben, zu regieren“, sagt Historikerin Hauch.
Es blieb beim Nachdenken: Nur 115 Frauen kandidierten österreichweit für die erste Parlamentswahl am 16. Februar 1919. Ihre Wahlergebnisse waren enttäuschend: Sieben weibliche sozialdemokratische Abgeordnete schafften es ins Parlament, darunter Adelheid Popp und Therese Schlesinger. Von den Christlichsozialen wurde nur Hildegard Burjan entsandt. Die Regierungsbank blieb ausschließlich männlich besetzt. Und das sollte noch fast 50 Jahre lang so bleiben.