Vom Kolonialreich in den Krieg
In diesen Tagen ist der Konflikt um die indische Region Kaschmir wieder aufgeflammt. Blutiges Erbe des Zerfalls der britischen Kronkolonie vor mehr als 70 Jahren, der in Krieg, Gewalt und Vertreibung mündete
Noch ehe Lord Louis Mountbatten im März 1947 sein Amt als letzter britischer Vizekönig in Indien angetreten hatte, prophezeite er eine kriegerische Katastrophe. Der Royalist war beauftragt worden, das einstige Paradies der Maharadschas und britischen Gentlemen-Offiziere zu liquidieren – das kriegsgeschwächte Großbritannien konnte eine Kolonie mit 400 Millionen Menschen nicht mehr erhalten.
Es gab wohl niemanden, der ungeeigneter für diese Aufgabe gewesen wäre als Mountbatten.
16 Monate Zeit hatte „der letzte Gentleman“, wie der Urenkel von Königin Victoria genannt wurde, bekommen; fünf brauchte er, um den Abzug der Briten durchzupeitschen. „Das absurd frühe Datum sorgte für helle Aufregung, es jagte ihnen allen einen Schrecken ein. Ich war selbst überrascht, als ich es ausgesprochen hatte“, meinte Mountbatten später. Widerstand war zwecklos: Langjährige Kolonialverwalter stellte der psychopathisch ehrgeizige und intrigante „Dickie“als Dummköpfe hin. Im August 1947 waren mit Indien und Pakistan zwei Demokratien britischen Musters geschaffen, die ihre Geburt mit Massenmorden an Hindus, Moslems und Sikhs begehen sollten.
Initialzündung
Der 15. August 1947 gilt als einer der wichtigsten Tage der Weltgeschichte. Die Befreiung Indiens war der Anfang vom Ende des Kolonialismus, ein Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts. Dass Großbritannien Indien aufgeben musste, war ein Signal. 1954 verlor Frankreich den Indochinakrieg, und in den 1960er-Jahren befreiten sich Kolonien im Jahrestakt von ihren europäischen Herren. Das alles ging nicht friktionsfrei ab und blieb nicht ohne Folgen: Als sich während des Zweiten Weltkriegs das nahende Ende der britischen Herrschaft über Indien abzeichnete, drängten Muslim-Führer auf eine Teilung. Hintergrund ihrer Forderung: Muslime sollten nicht länger die Minderheit in Indien sein. Zu lange hatten sie unter einer doppelten Kolonialherrschaft gelitten – von Briten und Hindus.
Angesichts blutiger Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen setzt sich Vizekönig Mountbatten für eine rasche Lösung ein. Die Führung des indischen Nationalkongresses stimmt gegen den Willen des Führers der Unabhängigkeitsbewegung, Mahatma Gandhi, der Teilung zu.
Am Tag der Unabhängigkeit betonten die beiden politischen Führer, Jawaharlal Nehru und Muhammad Ali Jinnah, im Radio noch die friedfertigen Absichten ihrer jungen Staaten – unterschiedliche Religionen hin oder her. Hauptsache, die verhassten Kolonialherren waren endlich weg. Eine unüberschaubare Menschenmenge jubelte in den Straßen von Delhi. Tatsächlich hielt der Friede gerade zwei Monate.
Kaschmir-Konflikt
Flüchtlingsströme quälten sich durch den Subkontinent: Indische Muslime suchten in Pakistan Sicherheit, pakistanische Hindus zog es nach Indien. Wer mit der falschen Religion in seiner Heimat blieb, wurde enteignet. Flüchtlingsströme hielten jahrelang an, weil es in beiden Ländern immer wieder zu Pogromen gegen die Anderen kam. Das Chaos war mit abertausenden Toten fürchterlich; die genaue Zahl kennt niemand. Noch heute leiden die Nachfahren der Opfer unter den damaligen Verbrechen.
Im Oktober 1947 brach der erste Krieg um das Kaschmir-Tal aus. Kaschmirs lokale politische Führung war zwar hinduistisch, aber die Muslime bildeten die Bevölkerungsmehrheit. Trotzdem entschied sich das Fürstentum für den Anschluss an Indien. Pakistan reagierte, indem es zuerst Freischärler und bald darauf die reguläre Armee schickte. Die indische Armee ging gegen die Invasoren vor und siegte rasch. Der erste Krieg im Kaschmir sollte zwei Jahre dauern, vier weitere Kriege folgten.
Die Idee, die Konflikte zwischen Muslimen und Hindus durch die Schaffung zweier getrennter Staaten beizulegen, war gescheitert: Kaschmir leidet bis heute unter den tragischen Konsequenzen dieses Irrtums britischer Kolonialpolitik.