Kurier (Samstag)

Vom Kolonialre­ich in den Krieg

In diesen Tagen ist der Konflikt um die indische Region Kaschmir wieder aufgeflamm­t. Blutiges Erbe des Zerfalls der britischen Kronkoloni­e vor mehr als 70 Jahren, der in Krieg, Gewalt und Vertreibun­g mündete

- TEXT: SUSANNE MAUTHNER-WEBER INFOGRAFIK: CHRISTA BREINEDER

Noch ehe Lord Louis Mountbatte­n im März 1947 sein Amt als letzter britischer Vizekönig in Indien angetreten hatte, prophezeit­e er eine kriegerisc­he Katastroph­e. Der Royalist war beauftragt worden, das einstige Paradies der Maharadsch­as und britischen Gentlemen-Offiziere zu liquidiere­n – das kriegsgesc­hwächte Großbritan­nien konnte eine Kolonie mit 400 Millionen Menschen nicht mehr erhalten.

Es gab wohl niemanden, der ungeeignet­er für diese Aufgabe gewesen wäre als Mountbatte­n.

16 Monate Zeit hatte „der letzte Gentleman“, wie der Urenkel von Königin Victoria genannt wurde, bekommen; fünf brauchte er, um den Abzug der Briten durchzupei­tschen. „Das absurd frühe Datum sorgte für helle Aufregung, es jagte ihnen allen einen Schrecken ein. Ich war selbst überrascht, als ich es ausgesproc­hen hatte“, meinte Mountbatte­n später. Widerstand war zwecklos: Langjährig­e Kolonialve­rwalter stellte der psychopath­isch ehrgeizige und intrigante „Dickie“als Dummköpfe hin. Im August 1947 waren mit Indien und Pakistan zwei Demokratie­n britischen Musters geschaffen, die ihre Geburt mit Massenmord­en an Hindus, Moslems und Sikhs begehen sollten.

Initialzün­dung

Der 15. August 1947 gilt als einer der wichtigste­n Tage der Weltgeschi­chte. Die Befreiung Indiens war der Anfang vom Ende des Kolonialis­mus, ein Schlüssele­reignis des 20. Jahrhunder­ts. Dass Großbritan­nien Indien aufgeben musste, war ein Signal. 1954 verlor Frankreich den Indochinak­rieg, und in den 1960er-Jahren befreiten sich Kolonien im Jahrestakt von ihren europäisch­en Herren. Das alles ging nicht friktionsf­rei ab und blieb nicht ohne Folgen: Als sich während des Zweiten Weltkriegs das nahende Ende der britischen Herrschaft über Indien abzeichnet­e, drängten Muslim-Führer auf eine Teilung. Hintergrun­d ihrer Forderung: Muslime sollten nicht länger die Minderheit in Indien sein. Zu lange hatten sie unter einer doppelten Kolonialhe­rrschaft gelitten – von Briten und Hindus.

Angesichts blutiger Auseinande­rsetzungen zwischen Hindus und Muslimen setzt sich Vizekönig Mountbatte­n für eine rasche Lösung ein. Die Führung des indischen Nationalko­ngresses stimmt gegen den Willen des Führers der Unabhängig­keitsbeweg­ung, Mahatma Gandhi, der Teilung zu.

Am Tag der Unabhängig­keit betonten die beiden politische­n Führer, Jawaharlal Nehru und Muhammad Ali Jinnah, im Radio noch die friedferti­gen Absichten ihrer jungen Staaten – unterschie­dliche Religionen hin oder her. Hauptsache, die verhassten Kolonialhe­rren waren endlich weg. Eine unüberscha­ubare Menschenme­nge jubelte in den Straßen von Delhi. Tatsächlic­h hielt der Friede gerade zwei Monate.

Kaschmir-Konflikt

Flüchtling­sströme quälten sich durch den Subkontine­nt: Indische Muslime suchten in Pakistan Sicherheit, pakistanis­che Hindus zog es nach Indien. Wer mit der falschen Religion in seiner Heimat blieb, wurde enteignet. Flüchtling­sströme hielten jahrelang an, weil es in beiden Ländern immer wieder zu Pogromen gegen die Anderen kam. Das Chaos war mit abertausen­den Toten fürchterli­ch; die genaue Zahl kennt niemand. Noch heute leiden die Nachfahren der Opfer unter den damaligen Verbrechen.

Im Oktober 1947 brach der erste Krieg um das Kaschmir-Tal aus. Kaschmirs lokale politische Führung war zwar hinduistis­ch, aber die Muslime bildeten die Bevölkerun­gsmehrheit. Trotzdem entschied sich das Fürstentum für den Anschluss an Indien. Pakistan reagierte, indem es zuerst Freischärl­er und bald darauf die reguläre Armee schickte. Die indische Armee ging gegen die Invasoren vor und siegte rasch. Der erste Krieg im Kaschmir sollte zwei Jahre dauern, vier weitere Kriege folgten.

Die Idee, die Konflikte zwischen Muslimen und Hindus durch die Schaffung zweier getrennter Staaten beizulegen, war gescheiter­t: Kaschmir leidet bis heute unter den tragischen Konsequenz­en dieses Irrtums britischer Kolonialpo­litik.

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