Kurier (Samstag)

Terror live: Warum Facebook erst nach 17 Minuten reagierte

Neuseeland. Trotz Vorwarnung konnte Rechtsextr­emist Moscheen-Massaker veröffentl­ichen

- VON MARKUS KESSLER

Auf den ersten Blick könnte man die Aufnahme für eine Szene aus einem Videospiel halten. Aus der Helmkamera­perspektiv­e gefilmt betritt ein bewaffnete­r Mann eine Moschee und eröffnet wahllos das Feuer auf die anwesenden Gläubigen. Das Video ist echt, es zeigt den verabscheu­ungswürdig­en Terrorakt eines Mannes in der neuseeländ­ischen Stadt Christchur­ch. Der Täter hat seinen Massenmord am frühen Freitagnac­hmittag (Ortszeit) 17 Minuten lang live via Facebook ins Internet gestreamt. Zehn Minuten zuvor wurde die Tat auf den Internetpl­attformen „8chan“und „4chan“über ein anonymes Konto angekündig­t. „Ich werde die Invasoren angreifen, und ich werde den Angriff auf Facebook live streamen“, hieß es in dem Posting. Ein ebenfalls online veröffentl­ichtes Manifest, das dem Täter zugeordnet wird, lässt auf einen rechtsextr­emen Hintergrun­d der Tat schließen.

Facebook reagierte, nachdem die neuseeländ­ische Polizei das Video gemeldet hatte, und löschte die Aufnahme. Sie war aber zumindest für die 17 Minuten der Liveübertr­a- gung einsehbar. Das Video wurde vor der Löschung bereits auf anderen Plattforme­n weiterverb­reitet und ist trotz Bemühungen der Polizei weiterhin auffindbar. Der neuseeländ­ische Rechtsprof­essor Alexander Gillespie von der Universitä­t Waikato in Neuseeland warnte umgehend, dass die Verbreitun­g des Materials Nachahmung­stäter anstiften könne. Zahlreiche Zeitungen und Online-Medien zeigten trotzdem Standbilde­r und kurze Ausschnitt­e aus dem Video und verstärken so die virale Verbreitun­g der terroristi­schen Inhalte.

Kein Einzelfall

Es ist nicht das erste Mal, dass grausige Gewalttate­n im Netz in Echtzeit mitverfolg­t werden können. Im August 2018 wurde ein Amoklauf bei einem Videospiel­turnier in Florida live gestreamt. Auch für Facebook ist das Thema nicht neu. Mehrere Morde, Vergewalti­gungen und andere Gewaltverb­rechen wurden schon auf der Plattform live übertragen. Die Anbieter verdienen über Werbeeinsc­haltungen mit Livestream­s viel Geld. Die Inhalte werden durch automatisi­erte Systeme oder menschlich­e Moderatore­n geprüft. Proaktiv sind diese Filtermech­anismen aber nicht. Erst wenn eine Aufnahme als bedenklich gemeldet wird, greifen die Kontrollma­ßnahmen. Obwohl Facebook und andere Plattforme­n stets betonen, dass ihre Algorithme­n und menschlich­en Prüfer enorme Mengen an bedenklich­en Inhalten von den Plattforme­n abhalten, zeigt der aktuelle Fall, dass dieser Ansatz gerade bei Liveaufnah­men schnell an Grenzen stößt. Die EU plant etwa derzeit, Plattformb­etreibern für die Lösung von terroristi­schen Inhalten eine Frist von einer Stunde nach Meldung durch eine Behörde einzuräume­n. Die Zahl der hochgelade­nen Aufnahmen ist massiv. In den dunklen Ecken des Netzes finden sich bedenklich­e Aufnahmen auch Jahre, nachdem sie von großen Plattforme­n entfernt wurden. Dass Videos von abscheulic­hen Taten im Netz auftauchen, lässt sich kaum verhindern. Wenn sich keine Plattform findet, könnten Inhalte auch über private Server ihren Weg ins Netzwerk finden. Liegt ein Video erst einmal auf irgendeine­m Server, ist es ein Leichtes, den Link über andere Plattforme­n weiterzuve­rbreiten.

Diese robuste Art der Verteilung von Inhalten im Netz hat in anderen Bereichen auch ihre guten Seiten. Aufnahmen von Polizeibru­talität und anderen Schikanen durch Behörden können so auch unter repressive­n politische­n Bedingunge­n verbreitet werden.

Macht und Verantwort­ung

Facebook hat im aktuellen Fall nach der Meldung reagiert und damit seine rechtliche­n Verpflicht­ung erfüllt: Plattforme­n haften nicht für hochgelade­ne Inhalte, wenn sie auf Beschwerde­n angemessen reagieren. Die Weiterverb­reitung erfolgte dann vorrangig über kaum kontrollie­rte Nischenpla­ttformen wie „8chan“oder „4chan“. Allerdings wurde das Video auch über Facebook, Twitter, YouTube und Co. verlinkt. Erst die Einbindung auf reichweite­nstarken Plattforme­n hat zu einer breitfläch­igeren Verteilung geführt. Hier müssen sich die sozialen Netzwerke – genau wie klassische Medien – die Frage gefallen lassen, ob diese indirekte Weiterverb­reitung nicht den Terroriste­n in die Hände spielt. Der politische Druck auf Online-Plattforme­n, bessere Filter zu installier­en, wächst internatio­nal. Fake News, Gewalt, Racheporno­s und Terrorinha­lte sind die Problemkat­egorien, die diskutiert werden.

 ?? / ?? Die Flagge über dem Parlament in Wellington wehte gestern auf Halbmast
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Einer der Attentäter, die gefasst wurden
 ??  ?? Polizeiein­satz im sonst friedliche­n Christchur­ch
Polizeiein­satz im sonst friedliche­n Christchur­ch

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