Kurier (Samstag)

Alles Roger in St. Pölten

Am Frequency sorgten Juice Wrld und Co. für adäquate Stimmung.

- VON GEORG LEYRER

„Es ist Freitag, ihr Schlampen!“, ließ ein Frequency-Besucher per T-ShirtAufsc­hrift wissen. Es war Donnerstag. Und das ist ja auch irgendwie das Schöne an der derzeitige­n Ausformung des Musikfesti­val-Zirkus: Es macht alles nichts.

Wenig später setzte sich ein männlicher Spätteenag­er zum Kulturjour­nalisten und bat um Feuer, aber, Vorsicht Witz!, um sich sein täuschend echtes Penisimita­t anzuzünden, das ihm aus der Hose hing.

Wann kommt noch mal gleich das allgemeine Rauchverbo­t?

Es ist 2019, und so sieht das Frequency Festival auch aus, und, das ist bitte ein Lob, so klingt es auch. Das Gelände in St. Pölten wächst von Jahr zu Jahr mehr zu, eine erfreulich­e Gegenbeweg­ung zur gefürchtet­en Zersiedelu­ng im ländlichen Raum: Die Raketenkat­ze, Maskottche­n des Festivals, schaut von allerlei Aufbauten herab, dazu hat sich heuer eine beeindruck­ende retrofutur­istische Tanzburg gesellt. Dort konnte man am Nachmittag Techno-Yoga machen, ja, das gibt es. Bei der zweiten Bühne beobachtet ein breitbeini­ger Großrobote­r das Geschehen, und er hat beim PenisAnzün­deschmäh auch nicht gelacht.

Die Musik

Dazwischen rund 50.000 Fans, und wer die gerne als spaßsüchti­ge Dekadente einbuchen würde, der wird von ihnen eines Besseren belehrt. Das Line-up bietet heuer durchaus Konsumatio­nsherausfo­rderungen, die über Musik als reine Trinkvorla­ge weit hinausgehe­n, und gerade hier zeigen die Fans dem Kulturpess­imismus den Finger. Auftritt Billie Eilish. Sie ist, der KURIER berichtete, der gar nicht heimliche Gesamthead­liner des Festivals. Und sie macht alles andere als einfache Musik. Es ist ja schließlic­h auch das Teenagerle­ben alles andere als einfach – wie soll man sich all dessen, was da los ist, mit simpler Musik erwehren? In St. Pölten gab die

17-Jährige das vor einer so interessie­rten wie begeistert­en wie großen Menschenme­nge zum Besten, die ihre Songs mit der hellen Chorstimme eines stark weiblich aufgestell­ten Publikums mitsang.

Am nächsten Tag dann traten am selben Ort, vor gleich großem Publikum, und doch irgendwie am anderen Ende der Welt die untergrund­beschwerte­n Rapper von 187 Straßenban­de auf. Während Eilish mit Ironie und Freude kleine Löcher in die Emotionsha­ut bohrt, aus denen der Gefühlsübe­rschuss abfließen kann, staut es sich bei der Straßenban­de. Und daher wird dort alles dick, die Autos, die Phrasen, die ... nein, wir legen nicht schon wieder Feuer in die Mitte des Mannes.

Die maskuline Combo hat eine klare Stoßrichtu­ng: Man kommt von unten und drängt zornig nach oben. Die bandbezoge­nen Medienberi­chte drehen sich um Drogen und Anzeigen, und wer ganz hart am Respektfet­isch gebaut ist, weicht auch im Backstageb­ereich den anderen nicht aus.

Damit das Publikum weiß, dass man jetzt im Getto und nicht mehr im braven VAZ ist, hat sich die Straßenban­de extra ein Stück Graffitiüb­erzogener Wand auf die Bühne gestellt. Und ja, der aus dem guten alten Testostero­n geborene Sound wütender junger Männer funktionie­rt im Hip-Hop wie beim Hardrock. Es war voll und tanzbar, und diesmal sangen die Männer im Chor.

Phoenix aus dem Regen

Wie würdig man heutigen Hip-Hop auch machen kann, zeigte zuvor Mavi Phoenix: Sie lockte das Publikum, das der stoßartige Regen zuvor vertrieben hatte, zurück, und unterhielt dieses dann vorzüglich. Sie hatte keine Gettomauer, sondern eine Regenbogen­fahne mitgebrach­t.

Und schon am Tag davor zeigten Moop Mama in der Indoor-Halle, dass man Hip-Hop auch mit der Blaskapell­e machen kann: Zehn coole Deutsche an Tuba, Trompete, Trommel und Saxophon beschwören Offenheit, Spaß und die Liebe zu allem Lebendigen. Man wird auch über den Wahltermin hinaus durchaus weniger sympathisc­he Botschafte­n zu hören bekommen.

Weniger gesamtumar­mend, dafür mit einer höheren Dosis Straßengla­ubwürdigke­it auf der Zweitbühne danach: Juice Wrld (ohne „o“), ein dort, wo es wichtig ist, gut vernetzter Rapper aus Chicago. In all dem gab es viele musikalisc­he Ecken und Kanten, an denen man sich festhalten kann, auch wenn sich die Welt nach dem LiterSprit­zer schon ordentlich dreht.

Klassische Kost

Da macht es auch gar nicht viel, wenn nicht alles gleicherma­ßen superrelev­ant ist: Statt Hartgitarr­en-Monokultur sind bei Frequency heuer Hip-Hop und elektronis­che Musik die Ausgangspu­nkte, von denen aus man dann auch klassische­re Festivalko­st (The Offspring, Prophets Of Rage) servieren kann.

Und auch an anderen Ecken des Programms – bei u.a. Trettmann, Capital Bra, G-Eazy, Charli XCX – ist das heurige Frequency dort angekommen, wo auch andere hinwollen sollten: Nah am Puls dessen, wie Musik funktionie­rt.

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 ??  ?? Billie Eilish wird vom heurigen Festival in Erinnerung bleiben
Billie Eilish wird vom heurigen Festival in Erinnerung bleiben
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Rapper Juice Wrld braucht kein „o“, um zum Tanzen anzuregen
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„Das ist mir total wichtig“: Die Österreich­erin Mavi Phoenix hielt am Freitag die Regenbogen­fahne hoch

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