Neue SPD-Spitze übt den Balanceakt
Neues Duo verspricht Linksschwenk, aber kein sofortiges Koalitions-Aus. Parteirebell Kühnert wird Vizechef
Ein Geist schwebt über diesem Parteitag: Kaum ein Name wird an diesem Tag so gewürdigt wie der von Andrea Nahles, die im Juni – nach verlorenen Wahlen, internen Querelen und nicht einmal 12 Monate im Amt – zurückgetreten ist. „Irgendwie wird sie es hören“, ruft Malu Dreyer, die die SPD kommissarisch übernahm, in den Saal. Was die abwesende Nahles darüber denkt, lässt sich erahnen.
„Wir haben uns nicht von der besten Seite gezeigt“, räumt Generalsekretär Lars Klingbeil zu Beginn ein – mit Blick auf Nahles’ Abgang und den von Martin Schulz. Noch vor zwei Jahren stand er hier auf der Bühne der Berliner Messehalle und warb für den Gang in die Große Koalition.
Heute sollen die 600 Delegierten zwei neue Parteichefs absegnen, die Schulz’ Vermächtnis kritisch sehen und dafür von vielen SPDMitgliedern gewählt wurden: Saskia Esken (58) und Norbert Walter-Borjans (67).
Sie wird am Ende 75,9 Prozent der Stimmen bekommen, er 89,2 Prozent.
Beide mussten schon in der ersten Woche um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen:
Denn alles, was zum Thema Koalition fiel, wurde von Presse wie Genossen seziert.
Die SPD gebe der Großen Koalition eine „realistische Chance auf eine Fortsetzung“– „nicht mehr, aber auch nicht weniger“, sagt Saskia Esken bei ihrer Bewerbungsrede. Dann dankt sie Andrea Nahles: Man wird morgen ein Sozialstaatsprogramm verabschieden, das sie auf den Weg gebracht hat. Die SPD will sich von alten Fesseln lösen – Stichwort Hartz IV.
Ob sie sich von der Union lösen wird, ist noch unklar. Eine Mehrheit stimmt am Abend dafür, dass man noch einmal über Forderungen sprechen will: höherer Mindestlohn, mehr Klimaschutz und Investitionen. Davon will man den Verbleib in der Koalition abhängig machen.
Stunden zuvor holt Saskia Esken noch Norbert WalterBorjans zu sich und ruft in den Saal: „Hört ihr die Signale? Die neue Zeit, sie ruft.“Die Menschen stehen auf und klatschen. Die SPD erlebt wieder einen euphorischen Moment. Was Martin Schulz, einst 100-Prozent-Kandidat, gerade denkt? Er sitzt in der ersten Reihe und applaudiert.
Die Erwartungen an das neue Duo sind hoch. Dass es von der Basis gewählt wurden, hilft ihm etwas. Es ist frei vom Geruch der Hinterzimmerkungelei, die seine Vorgänger laut Kritiker umwehte. Gleichzeitig haben bei der Mitgliederbefragung nur 54 Prozent mitgemacht. Um eine Spaltung zu verhindern, stoppte man kurzfristig eine Kampfkandidatur um die Partei-Vizeposten zwischen Juso-Chef Kevin Kühnert und Arbeitsminister Hubertus Heil. Nun soll Platz für beide und drei weitere sein. Kühnert mit roten Socken Die Delegierten reißt er nach fast neun Stunden Parteitag jedenfalls von den Sitzen – mit einer Grundsatzrede und roten Socken in der Hand als Zeichen für jene, die der SPD linke Spinnereien attestieren. Er bekommt dafür tosenden Applaus, Standing Ovations und 70 Prozent, ähnlich wie die anderen, wie etwa Arbeitsminister Hubertus Heil. Immerhin: Dass ein Juso-Chef Parteivize wird, gab’s noch nie. Kühnerts Anhänger hoffen, dass er den SPD-Kurs stark prägen wird.
Inhaltlich wird sich zeigen, wie viel Spielraum die neue Führung hat. WalterBorjans kritisiert die „schwarze Null“und spricht sich für einen linken Kurs aus. „Wenn es links ist, das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu bekämpfen, dann machen wir als Partei einen ordentlichen Linksschwenk.“Inwiefern sie diesen vollziehen kann, werden die nächsten Monate zeigen.