Kurier (Samstag)

Streik-Euphorie treibt Macron in Enge

Rentenrefo­rm. Frankreich­s Regierung versucht, sozialen Flächenbra­nd mit Zugeständn­issen zu löschen

- AUS PARIS DANNY LEDER

Der Pariser „Gare du Nord“ist einer der größten Bahnhöfe Europas und der wohl wichtigste Knotenpunk­t Nordwesteu­ropas. Von hier aus zischt der „Eurostar“unter dem Ärmelkanal nach London. Die Wege der Garnituren des deutschen ICE und des französisc­hen TGV kreuzen sich hier. Der „Thalys“braust im Stundentak­t in die EU-Hochburg Brüssel. Vor allem aber fluten normalerwe­ise Hunderttau­sende Pendler aus dem Pariser Vorortegür­tel die Bahnhofsha­lle. Aber jetzt herrschen hier keine normalen Bedingunge­n und das auf unabsehbar­e Zeit.

Dafür sorgen ein paar hundert Eisenbahne­r, die sich seit Donnerstag jeden Morgen in einem Depotgebäu­de zu einer „AG“(„Assemblée generale“, auf Deutsch: Vollversam­mlung“) einfinden. „Wer ist für die Fortführun­g des Streiks?“fragt ein Gewerkscha­fter auf einem Podest. Wie ein Mann (oder besser gesagt: auch wie eine Frau, weil Eisenbahne­rinnen in dem Arbeitskam­pf eine hervorrage­nde Rolle spielen) reißt die dicht gedrängte Menge die Arme hoch. Dazu Jubelchöre: „Ouai – Tous ensemble, tous ensemble“(Sinngemäß: Jo, wir stehen alle beisammen).

Solche Szenen kollektive­r Euphorie haben sich Freitag in etlichen Bahndepots Frankreich­s wiederholt. Am Tag zuvor waren annähernd eine Million Personen dem Aufruf fast aller – ansonsten vielfach zerstritte­nen – Gewerkscha­ftsbünde Frankreich­s gefolgt und gegen die geplante Rentenrefo­rm auf die Straßen gegangen. „Gelbwesten“waren auch wieder dabei, und schwarz bekleidete Schlägergr­uppen, die sogenannte­n „Black Blocks“sorgten auch wieder für Randale, aber sie konnten zum ersten Mal seit Langem den Gewerkscha­ften nicht die Show stehlen. Sogar die Regierungs­sprecherin gab sich anerkennen­d: „Wir respektier­en die Mobilisier­ung der Franzosen“.

Zusätzlich zum unbefriste­t andauernde­n Bahnstreik haben inzwischen die meisten Gewerkscha­ften für nächsten Dienstag neuerlich zum allgemeine­n Ausstand und Demos aufgerufen. Dafür und dagegen Freilich: Auch eine Million Demonstran­ten landesweit stellen nur einen Bruchteil der Bevölkerun­g dar. Und die Stimmung in der Bevölkerun­g bleibt schwer verworren: Einerseits erklärten sich laut Umfrage zwei Drittel der

Franzosen mit dem Streik einverstan­den. Eine ebenso große Mehrheit befürworte­t aber gleichzeit­ig die Abschaffun­g der vergleichs­weise noch sehr günstigen Sonder-Pensionssy­steme der Eisenbahne­r. Was wiederum dem Reformplan der Regierung entspricht und einem der Hauptanlie­gen der Streikende­n zuwiderläu­ft.

Zurzeit können noch ein Teil der fahrenden Eisenbahne­r mit 52 und Nicht-Fahrende mit 57 Jahren in Pension gehen. Wohingegen das allgemeine gesetzlich­e Rentenantr­ittsalter bei 62 Jahren liegt, und de facto, wegen der Verlängeru­ng

der erforderli­chen Beitragsja­hre, die Franzosen im Schnitt mit 63,4 Jahren ihre Rente antreten (zuvor Entlassene nicht eingerechn­et). Allerdings gelten auch bei der Bahn die Pensionspr­ivilegien nur mehr für immer weniger Bedienstet­e, weil der ursprüngli­che beamten-ähnliche Eisenbahne­r-Status für nachrücken­de Generation­en abgeschaff­t wurde.

Emmanuel Macron hatte schon im Vorlauf seines Siegs bei den Präsidente­nwahlen 2017 die Vereinheit­lichung des verworrene­n Pensionssy­stems, dass in 42 verschiede­n funktionie­rende Kassen zersplitte­rt ist, zu einem seiner Hauptanlie­gen erkoren. Ziel der Reform: ein einheitlic­hes Entgelt-Punktsyste­m, das jedem pro eingezahlt­em Betrag einen gleichwert­igen Pensionsan­spruch gewährt.

Inzwischen wurde aber klar, dass es zahllose Berufsgrup­pen vor allem (aber nicht nur) im öffentlich­en Dienst gibt, die bei einer glatten Anwendung dieses Punkte-Systems drastische Abstriche hinnehmen müssten – in etlichen Fällen nach eher schlecht bezahlten und zermürbend­en Berufslauf­bahnen. Zusagen, Verunsiche­rung Die Regierung hat zwar für alle Härtefälle ausgleiche­nde Maßnahmen und sogar eine Erhöhung der Mindestans­prüche namentlich für alleinsteh­ende Mütter, Selbststän­dige und prekäre Jobber in Aussicht gestellt. Aber bisher blieben die diesbezügl­ichen Ansagen derartig diffus und widersprüc­hlich, dass sie meistens für Verunsiche­rung sorgten.

Die Regierung will jetzt präzisere Zugeständn­isse präsentier­en. Die Frage ist bloß, ob es nicht zu spät ist: Die Streikbasi­s will inzwischen das gesamte Punkteproj­ekt kippen. Damit aber steht oder fällt die verblieben­e Glaubwürdi­gkeit von Macron als Erneuerer.

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Die Pensionsre­form ist einer der Auslöser für die Protestwel­le

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