Für Schwindelfreie
Ein andalusisches Dorf, das am Abgrund balanciert. Eine biblische Bühne des Lebens. Eine magische Landschaft, die schon immer Künstler faszinierte: Ronda, 723 Meter hoch über dem Touristen-Zentrum Costa del Sol thronend.
Klarheit und Frische – von der sich der Dichter eine bessere Verteilung seines quälenden Blutes erwartet.
Der schüchterne 37-jährige Lyriker Rilke findet in Ronda keine Heilung von seinen Leiden, doch Inspiration, er schreibt Gedichte, und erlebt wie betäubt Momente der Unbeschwertheit. Seiner Mutter schreibt Rilke pathetisch von einem solch raren Glücksmoment seines Lebens, einem Panorama von unbeschreiblicher Hoheit: Die über und über geweißten kleinen Häuser sahen aus, als hätten sie alle reine Hemden angezogen, und dabei lag der Schatten des Vollmonds so stark über allem, daß man gelegentlich meinen konnte, zwischen lauter Schnee zu gehen.
Heute huldigt man dem elegischen Rilke touristenfreundlich im Hotel Reina Victoria: Im Garten, gleich neben der Felskante, posiert der Dichter in Bronze gegossen vor einer Zypresse, eine schlanke Figur mit Schnauzbart und einem Buch in der rechten Hand. Sehnsuchtsvoll blickt er in die Weite der andalusischen Landschaft. Neben der Rezeption hat man einen Bücherschrank mit Rilke-Werken, von getrockneten Rosenblättern garniert, hingestellt. Schließlich ist die Rose Rilkes Lieblingsblume.
Über dem Abgrund
Die Neue Brücke ist der meistbesuchte Ort in Ronda, das meistfotografierte Bauwerk. Für Schwindelfreie. Ein mehr als 200 Jahre altes Meisterwerk der Ingenieurskunst, das den beklemmend bodenlos wirkenden Abgrund überspannt. Man hat das Gefühl, die Stadt balanciere am Abgrund. In den Cafés rund um die Brücke erzählt man sich von einem tödlichen SelfieIrrsinn: Vor einigen Jahren sei hier ein Tourist aus Heidelberg 150 Meter in die Tiefe gestürzt – immer noch einen Schritt mehr Richtung Abgrund bewegte er sich auf der Brückenmauer, damit das Foto für die in Deutschland zurückgebliebene Familie noch eindrucksvoller wirke.
Die gepflasterten Gassen der Altstadt erinnern an Prag, die pittoresken Innenhöfe mit Brunnen, bunten Fliesen und üppigen Pflanzen an das marokkanisch-maurische Erbe Südspaniens. Stolz ist man auf die Ende des 18. Jahrhunderts gebaute Stierkampfarena,