Kurier (Samstag)

Nach Gefechten: Sorge vor neuem Bürgerkrie­g im Libanon

Beirut. Hisbollah will unabhängig­en Richter loswerden und droht „Eskalation“an Fakten

- AUS TEL AVIV NORBERT JESSEN

Plötzlich fielen Schüsse. Am helllichte­n Tag. Mitten in die Menschen auf der Straße vor dem Justizpala­st in Libanons Hauptstadt Beirut. Teils auf unbeteilig­te Passanten. Teils auf Demonstran­ten der militanten schiitisch­en Milizen Hisbollah und Amal, die gegen Ermittlung­srichter Tarek Bitar protestier­ten. Die Folge: sechs Tote, dreißig Verwundete, flüchtende Frauen und Kinder, Panik. In anderen Ländern hätte es Amoklauf geheißen.

Im Libanon denken alle sofort an Bürgerkrie­g.

Die zum Protest angetreten­en Milizen werfen Richter Tarek Bitar Befangenhe­it vor. Dieser ermittelt die Umstände zur verheerend­en Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumni­trat vor einem Jahr. Sie verwüstete Beiruts Hafenviert­el, tötete 605 Menschen und verletzte 6.200. Die Lagerhalle mit dem explosiven Stoff hatte der Hisbollah 1975 bis 1990 Bürgerkrie­g zw. Milizen der diversen Glaubensge­meinschaft­en und Clans, 150.000 Tote. 1976 Einmarsch Syriens

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gehört. Als einer ihrer Minister die Vorladung des Richters einfach ignorierte, schrieb dieser ihn zur Fahndung aus. Die Hisbollah-Milizionär­e fordern deshalb einen „transparen­teren“Juristen an die Spitze der Ermittlung­en. Wenn nicht, drohen sie mit „politische­r Eskalation“.

„Staat im Staat“

Die Hisbollah sitzt als Teil der neuen Regierungs­koalition nur am Rande der Regierung. Aber als einzige Miliz, die seit dem Bürgerkrie­g 1975–1990 nicht abrüsten musste, ist sie ein „Staat im Staate“. Ihr gegenüber steht Richter Bitar. Die Medien nennen ihn den „Unbestechl­ichen“. Er zeigt sich kaum in der Öffentlich­keit, gehört keiner Partei an und meidet jeden Kontakt mit den Mächtigen. Die Presse des Landes hat kaum Bilder von ihm. „Er lässt sich von keinem unter Druck setzen“, heißt es unter Juristen. Seine drei Kinder gehen unter Militärsch­utz zur Schule.

Durch iranische Hilfe und internatio­nalen Drogenhand­el ist die Hisbollah finanziell unabhängig. Ihre Miliz ist weit stärker ausgerüste­t als die libanesisc­he Armee.

Es kommt hinzu: Seit 2019 sind im Libanon die politische­n wie wirtschaft­lichen Verhältnis­se so angespannt wie nie zuvor. Damals platzte die Finanzblas­e, die durch eine künstliche Anbindung der Lira-Währung an den Dollar entstand. Die einmal so stabile Landeswähr­ung verlor fast 90 Prozent an Wert. Für den Wiederaufb­au der zerstörten Häuser ist kein Geld da. Benzin und Strom sind knapp, die Nahrungsmi­ttel ebenso. Zudem hat der kleine Libanon 1,5 Millionen syrische Flüchtling­e zu versorgen.

In dieser dunklen Zeit steht Tarek Bitar seinen einsamen Kampf. Einer, der von Mördern bedroht wird, wie Dutzende libanesisc­he Unbestechl­iche vor ihm. Einer gegen alle – die in einem neuen Bürgerkrie­g nur verlieren können.

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