Kurier (Samstag)

Tiktok als Therapie-Ersatz?

Selbsthilf­e. Videos und Influencer suggeriere­n, Diagnose und Behandlung­en für psychische Probleme zu bieten. Eine Therapeuti­n erklärt Vorteile – und Gefahren Fakten

- VON LAILA DOCEKAL Beliebtest­e Apps Buchtipp

„An diesen fünf Symptomen erkennst du, ob du depressiv bist.“Solche und ähnliche Videos trenden in den sozialen Medien und suggeriere­n Jugendlich­en, dass sie sich selbst eine Diagnose stellen können. Die Psychother­apeutin Nina Jordis erklärt: „Viele Jugendlich­e suchen sich heute über Social Media Hilfe und versuchen, ihren Zustand besser zu verstehen. An viralen Geschichte­n und den Klickzahle­n sieht man, dass das Interesse an dem Thema riesig ist.“

Zum einen habe das positive Seiten, weil junge Menschen dadurch besser aufgeklärt werden und sich in ihrer Situation weniger alleingela­ssen und besser verstanden fühlen. Doch das Phänomen hat auch viele negative Faktoren, warnt Jordis: „Eine Diagnose ist sehr schwierig zu stellen und das sollte man Fachleuten überlassen.“

Besonders am eingangs erwähnten Beispiel zeigt sich das Potenzial an falschen Diagnosen: „Da werden Ausprägung­smerkmale genannt, von denen wir alle etwas haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass man die Kriterien für eine Depression erfüllt.“

Auffangnet­z

Auch in Bezug auf Therapiemö­glichkeite­n sind viele Apps und Techniken, die über Social Media vermittelt werden, eher oberflächl­ich, warnt Jordis: „Psychother­apie ist etwas sehr Individuel­les. Nur wenn man die richtige Diagnose hat, kann man das richtige Behandlung­sverfahren wählen.“

Gefährlich wird es, wenn man auf eigene Faust versucht, Interventi­onen umzusetzen. „Das kann negative Reaktionen hervorrufe­n. Der User sitzt dann alleine mit seinen Gefühlen da und weiß nicht, wie er aus dieser Panikattac­ke, Wut oder Angst herauskomm­en soll.“Deshalb sei es wichtig, dass neDieses gative oder belastende Gefühle von jemandem aufgefange­n werden, der profession­ell dafür ausgebilde­t ist.

Die Therapeuti­n sieht in Social Media dennoch Potenzial für eine präventive Nutzung: „Es gibt viele Übungen, die dazu dienen, Grenzen zu setzen, auf sich aufzupasse­n oder auch die Selbstwirk­samkeit

zu stärken. Das kann im präventive­n Rahmen sehr hilfreich sein. Aber auch, um eine Therapie zu begleiten – aber nicht ausschließ­lich.“

Bei der Wahl des Therapeute­n oder der Therapeuti­n rät Jordis, aufs eigene Bauchgefüh­l zu hören: „Wenn man das Gefühl hat, man sitzt jemandem gegenüber, der

Laut dem JugendInte­rnet-Monitor 2023 sind die beliebtest­en Plattforme­n bei Jugendlich­en von 11 bis 17 Jahren (Reihung nach Beliebthei­t): Whatsapp, Youtube, Instagram, Snapchat und Tiktok

„Lass mal Therapie gehen! Sechs Therapie-Storys von Jugendlich­en“von Dr. Nina Jordis (Pseudonym), ab 12 Jahren, Verlag epubli, 15 €. Die Therapeuti­n erklärt in ihrem Buch anhand von Sitzungen und anonymisie­rten Erfahrungs­berichten von sechs Jugendlich­en sowie einem ausführlic­hen FAQTeil, woran man einen guten Therapeute­n erkennt und liefert wichtige Infos zu den häufigsten Diagnosen einen nicht versteht oder nicht sympathisc­h ist, rate ich immer dazu, weiterzusu­chen. Damit wir eine Wirkung erzielen, brauchen wir die Beziehung zwischen den Therapeute­n und den Patienten oder Klienten.“Und das können Apps und Videos auf Social Media definitiv nicht bieten.

dschungelw­ien.at

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