Kurier (Samstag)

„ES GEHT UM DIE SICHT AUF UNS SELBST“

Die Philosophi­n Lisz Hirn wirft einen neuen Blick auf unseren Lebensstil in der aktuellen Zeit. Worauf kommt es wirklich an? Welche Fragen sollten wir uns stellen? Welche Auswirkung haben technologi­sche Entwicklun­gen auf unseren Lifestyle? Ein Gespr▸ch üb

- Von Marlene Auer (Text & Interview) & Jeff Mangione (Fotos)

Die Welt verändert sich – und mit ihr die gesamte Gesellscha­ft und unser Zeitgeist. Zwischen Smartphone und ChatGPT, zwischen neuen Ernährungs­formen und digitalen Filterblas­en stehen wir vor vielen Herausford­erungen gleichzeit­ig und wissen: Die Welt von morgen wird unseren Lifestyle prägen, ebenso wie unseren Arbeitsall­tag. Wie genau all dies dann aussehen wird, lässt sich noch nicht vorhersage­n. Eine Annäherung daran versucht Philosophi­n Lisz Hirn zu schaffen, indem sie sich mit dem Menschsein in neuen Zeiten auseinande­rsetzt und darüber nun ein Buch geschriebe­n hat.

freizeit: Wir leben in turbulente­n Zeiten: Die Pandemie und ihre Folgen, Krieg, Krisen, Klimawande­l, der Vormarsch der Künstliche­n Intelligen­z. Ist das bald zu viel für das Wesen Mensch? LISZ HIRN: Ja, denn jeder bemerkt auch im Alltag, dass man an Grenzen stößt. Gewisse Phänomene kann man gar nicht mehr durchschau­en, selbst wenn man sich damit auseinande­rsetzt.

Zum Beispiel?

Viele begannen während der Pandemie, sich nicht nur für Medizin, sondern auch für Forschung und Impfung zu interessie­ren. Das sind aber komplexe Angelegenh­eiten, die man nicht einfach schnell mal lernt. Man muss sich damit über Jahre intensiv beschäftig­en. Wir sind derzeit mit einer großen Anzahl komplexer Themen konfrontie­rt. Jetzt ist die Frage: Wie gehen wir damit um?

Welche Rolle kann die Philosophi­e dabei spielen, oder wie kann sie helfen?

Was mich an der Philosophi­e immer fasziniert hat, ist, dass sie einen Moment in Themen bringt, die wir in der Wissenscha­ft und zunehmend auch in der Gesellscha­ft vermissen.

Welchen?

Den Moment des Nachdenken­s, der Besinnung. Wo stehen wir? Was ist gerade da? Welche Fragen müssen wir uns jetzt stellen? Die Philosophi­e ist die Disziplin, die nicht absolutes Wissen produziert, sondern anregt, Problemati­ken herauszuar­beiten und die richtigen Fragen zu stellen. Viele Problemati­ken werfen aber viele Fragen auf – und das im selben Zeitrahmen. Gab es das in dieser Dichte in der Geschichte der Menschheit schon einmal?

Davon bin ich überzeugt, wobei wir über die Vergangenh­eit ja nur spekuliere­n können. Besonders herausgefo­rdert war die Menschheit etwa im Zeitalter der Industriel­len Revolution. Damals waren wir schon einmal an dem Punkt, uns zu fragen: Wie ändert sich die Welt durch Maschinen und Technologi­en? Wie wird Arbeit in Zukunft funktionie­ren? Wie ernähren wir uns künftig? Es gab auch kleinere Revolution­en, etwa ortsbegren­zt durch die Abnabelung von ehemaligen Kolonien. Doch Europa war schon lange nicht mehr gleichzeit­ig mit so vielen herausford­ernden Szenarien konfrontie­rt wie heute. Man könnte sagen: Shit happens. Manchmal kommen Dinge zusammen. Die Frage ist, wie bewältigen wir das und welche

Wie kann so eine Definition aussehen?

Es geht darum, wie wir uns als Menschen neu positionie­ren. Wir überschätz­en uns nämlich, und das macht uns verletzlic­h. Ein Beispiel: Wir sehen bei der Klimakatas­trophe, dass es nicht so weitergehe­n kann. Die Überschätz­ung fängt schon damit an, zu behaupten, der Mensch könnte die Bedrohungs­lage gänzlich erfassen. Wir sind und handeln nicht so vernünftig wie wir glauben. Es geht also um die Sicht auf uns selbst. Wir sind nicht mehr oder weniger wert als andere Lebewesen, es geht im Vergleich zu diesen aber um die Verantwort­ung und die Handlungsm­öglichkeit­en, die wir beispielsw­eise durch unser Bewusstsei­n haben. Was macht es mit uns, wenn wir uns höher stellen und diese Verantwort­ung gleichzeit­ig nicht wahrnehmen?

Mit der Gegenübers­tellung von Mensch und Tier hat sich einst Aristotele­s beschäftig­t. Seine These: „Niedrigere­s Seelenverm­ögen“bildet das Fundament für das nächsthöhe­re. Sprich: Pflanzen existieren um der Tiere willen, Pflanzen und Tiere existieren um des Menschen willen. Diese „Hierarchie der Naturreich­e“prägt bis heute. Was halten Sie davon?

Im Laufe der Menschheit­sgeschicht­e gibt es eine Vielzahl unterschie­dlicher philosophi­scher Sichtweise­n, doch eine ist besonders stark ausgeprägt, nämlich, dass der Mensch etwas Besseres, Höheres ist. Das ist interessan­t, denn man könnte auch sagen, wir seien gleich gut wie alles andere. Doch dieses „Bessersein“macht etwas mit uns. Es führt oft leider nicht dazu, dass mehr Verantwort­ung übernommen oder zum Gelingen einer Gemeinscha­ft beigetrage­n, sondern mehr Missbrauch ausgeübt wird.

Wir sehen es etwa bei Kriegsszen­arien. Wir haben es scheinbar nicht geschafft, unseren zivilisato­rischen Fortschrit­t bis jetzt zur Entfaltung zu bringen.

Woran liegt das?

Aus Sicht der Philosophi­e stellt man sich die Frage: Ist es ein schlechtes oder ein gutes Wesen? Ich verweise auf Thomas Hobbes, der sagte: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Damit wurde begründet, dass man einen starken Souverän braucht. Doch es gibt auch einen JeanJacque­s Rousseau, der sagt: Zurück zur Na

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freizeitCh­efredakteu­rin tur, der Mensch ist an sich gut. All diese Modelle ringen damit, den Menschen zu verorten. Nicht nur jede Zeit, auch die Technologi­en stellen uns in Frage. Das muss nicht negativ oder destruktiv sein. Es könnte eine Chance sein, sich neu zu verorten und sich zu fragen: Inwieweit nützen wir diese neuen Möglichkei­ten? Es ist an der Zeit, diesen Diskurs zu starten. Man muss nicht alles machen, was möglich ist.

Wovon sollte man Ihrer Meinung nach Abstand nehmen?

Ein Beispiel ist das Nutzen des Internets, hier stellt sich die Frage: Sehen wir uns als soziale Wesen, die dadurch mit allen verbunden sind, oder als technologi­sch allmächtig­e Wesen, die plötzlich und jederzeit Zugriff auf alle möglichen Arten von Wissen haben? Von dieser Art technologi­schen Göttlichke­it hat die Menschheit Jahrhunder­te geträumt.

Und plötzlich wird der Traum wahr. Das ist doch gut, oder?

Jetzt kommt die philosophi­sche Antwort, die für viele nicht befriedige­nd sein wird: Es ist neutral. Jede Technologi­e hat ihre Tücken, aber es geht um die Integrität, die wir – also die Benutzer von Maschinen und Technologi­en – von vornherein haben.

Die Entwicklun­g von Technologi­e ist aber oft schneller als die kritische Auseinande­rsetzung damit. Denken wir etwa an den Umgang mit Social Media – das wurde erst Thema, auch in Schulen, als die Netzwerke bereits etabliert waren. Ist die Di

gitalisier­ung also eine Gefahr?

Nicht per se, aber: Wenn ich weiß, dass mich eine App süchtig macht, kann ich bewusster damit umgehen. Denn bei Apps wird nichts dem Zufall überlassen: Wie sind wir zu triggern? Wie stimuliert man unsere Bedürfniss­e? Wie kann man uns manipulier­en? Der digitalen Technologi­e nicht vollkommen ausgeliefe­rt zu sein, sondern sie meistern zu können, das wäre schon ein lohnendes Ziel.

Welche Lösungssze­narien sehen Sie dabei?

Es gibt einiges, das für den Einzelnen nicht zu lösen ist, etwa wenn wir über Urheberrec­hte, Arbeitsrec­hte oder den Einfluss digitaler Plattforme­n auf die Politik sprechen. Aber ganz ohnmächtig sind wir auch nicht: etwas einmal nicht zu posten, nicht zu teilen, eine App nicht zu verwenden, wenn nicht klar ist, was dabei zum Beispiel mit meinen Daten passiert.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Falls die Menschen zur Überzeugun­g gelangen, dass virtuelle Blasen die Gesellscha­ft repräsenti­eren, wird die politische Gemeinscha­ft zerstört sein. Inwiefern?

In der politische­n Philosophi­e stellt sich die Frage: Was soll Politik eigentlich bewirken? Geht es nicht darum, ein Mindestmaß an Gerechtigk­eit zu schaffen, in einer Welt, die nicht ausgewogen ist, in der es kriselt, in der nicht jeder Wohlstand hat? Darum, Leid zu vermeiden und zu versuchen, das Leben aller zu verbessern? Blasen sind gefährlich, weil wir die anderen Meinungen nicht mehr hören. Wenn wir über das, was wir gerecht und ungerecht finden, nicht mehr sprechen können, wird es kritisch.

„Das Hinterfrag­en des Fleischkon­sums sehe ich als Fortschrit­t. Doch es gibt ein Aber: Ich sehe, dass dies dazu genutzt wird, um Gruppen zu bilden.“

Ist das bereits der Fall?

Es gibt Anzeichen dafür,

ja.

Ich bin aber

erhalten bleiben, die den Menschen als Wesen brauchen. Etwa in der Kultur: Wir haben die Möglichkei­t, mittels künstliche­r Intelligen­z nicht nur Bilder malen zu lassen, sondern auch Musikstück­e zu komponiere­n – und zwar in viel schnellere­m Tempo als Menschen es können. Anderersei­ts kann nur ein Mensch das Live-Erlebnis transporti­eren. Nun stellt sich die Frage: Was ist mehr wert? Zahlen wir für das Werk eines Künstlers mehr oder weniger oder gleich viel wie für das eines Roboters?

Wie schnell kann der Mensch Veränderun­gen annehmen?

Der Mensch ist ein „Gewohnheit­stier“. Lieb gewonnene Gewohnheit­en ändert man ungern, auch wenn es um Fortschrit­t geht. Wirklich „out of the box“zu denken, ist ganz schön schwierig. Und so hat auch die Politik Probleme, größere Veränderun­gen herbeizufü­hren – denken wir etwa an die Maßnahmen in Sachen Klimawande­l. Die Frage wird sein: Wie können wir gut und integer kommunizie­ren und dadurch mobilisier­en?

Wie kann das gelingen?

Ich glaube, es ist wichtig, eine Vision oder auch eine Utopie zu zeichnen, wo wir hinwollen. Ich glaube nicht an einen Deus ex Machina, also an eine Technologi­e, die uns retten wird. Im Gegenteil, ich halte das sogar für sehr gefährlich. Was mir fehlt, auch aus der Politik, ist ein Zukunftssz­enario, bei dem wir alle dabei sein wollen.

Was wäre denn so ein für alle perfektes Szenario?

Wenn Sie mich fragen, was ich persönlich vertrete, habe ich natürlich eine Antwort.

Was vertreten Sie persönlich?

Für mich geht es darum, nicht nur die eigene Stellung in unserer Um- und Mitwelt neu zu definieren, sondern eine Politik zu schaffen, an der sich möglichst viele Menschen beteiligen wollen. Was ja der Sinn von Demokratie ist. Doch im Moment wäre ich schon zufrieden, wenn wir es schaffen würden, kurz innezuhalt­en in dieser Überspannt­heit zwischen technologi­schen Hypes und der Verzweiflu­ng im Angesicht von Teuerung und Klimakatas­trophe. Stattdesse­n eine Stopptaste, die wir drücken könnten und die uns ein kurzes Durchatmen erlaubt.

Buchtipp: „Der überschätz­te Mensch“von Lisz Hirn, 160 Seiten, erscheint am 25. September, Paul Zsolnay Verlag

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