Kurier (Samstag)

„Man wird nie alle Boote aufhalten können“

Gillian Triggs. Die stellvertr­etende UNHCR-Hochkommis­sarin befürworte­t die geplante EU-Asylreform, empfiehlt aber gleichzeit­ig einen anderen Blick auf Zuwanderun­g

- VON CAROLINE FERSTL

Zum 30-jährigen Jubiläum der Weltkonfer­enz über Menschenre­chte ist die stellvertr­etende UNHCR-Hochkommis­sarin Gillian Triggs zu Gast in Wien. Wie sieht sie die geplante EU-Asylreform?

KURIER: Die EU dürfte sich auf einen neuen Asylpakt einigen – ein Erfolg?

Gillian Triggs: Es ist nicht ideal, aber ein wichtiger Kompromiss, der 27 Länder in einer sehr umstritten­en Frage zusammenbr­ingt. Das Wichtigste ist eine Aufteilung der Verantwort­lichkeiten: Die Länder an der EU-Außengrenz­e brauchen dringend Unterstütz­ung.

Bis der Pakt umgesetzt wird, dauert es aber noch. Und auf die Länder an der EU-Außengrenz­e kommt die Herausford­erung zu, die Aufnahmeei­nrichtunge­n zu schultern.

Das ist einer gewissen Geografie geschuldet, die niemand ändern kann. Wir hoffen, dass in diesen Aufnahmeze­ntren dann eine Art Priorisier­ung vorgenomme­n und geprüft wird, wer wirklich dringend Schutz braucht. Der Kerngedank­e muss aber sein, dass jeder Mensch das Recht hat, Asyl zu beantragen.

Dem UNHCR zufolge kommt der Großteil der Geflüchtet­en (über 100.000) nach wie vor aus Tunesien übers Mittelmeer – trotz Abkommen zwischen Brüssel und Tunis. Sind derartige Abkommen also nutzlos?

Sie sind eine Maßnahme von vielen. Es wäre aber naiv zu glauben, man müsse nur etwas an der Grenze zu Europa tun, dann würden die Menschen aufhören, zu kommen. Wir müssen die gesamte Reiseroute der Menschen betrachten: Sie kommen aus Syrien, Afghanista­n und aus der durch Krieg, Klimawande­l, Armut und korrupte Regierunge­n destabilis­ierten Sahelzone.

Was muss Europa also tun?

Wir brauchen eine Stabilisie­rung der Bevölkerun­g entlang dieser Routen, eine Zusammenar­beit mit Herkunftsl­ändern, Entwicklun­gsbanken und Investitio­nen in gute Rechtsstaa­tlichkeit. Die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen, die internatio­nalen Schutz benötigen, in den einkommens­schwachen Nachbarlän­dern der Krisenregi­onen unterkomme­n, nicht in Europa. Was wir in Europa tun können, ist, unseren Blick auf Zuwanderun­g zu ändern: Viele europäisch­e Länder haben alternde Gesellscha­ften und brauchen Arbeitskrä­fte in Bereichen, in denen gebildete Europäer nicht gerne arbeiten: Reinigung, Landwirtsc­haft, Baugewerbe. Dafür braucht es eine Verbesseru­ng von legalen Migrations­möglichkei­ten. Die italienisc­he Regierung etwa hat das bereits erkannt (Bis 2025 will Italien 450.000 Einwandere­rn eine Arbeitserl­aubnis erteilen, Anm.)...

... und das, obwohl eine Rechtspopu­listin regiert ... Es ist ermutigend zu sehen, dass Ministerpr­äsidentin

Meloni begreift, dass ihr Land Zuwanderun­g braucht. Wenn sich eine Regierung von extrem populistis­chen Ansichten abwendet, ergeben sich neue Möglichkei­ten. Man wird nie alle Boote aufhalten können. Migration ist die Geschichte der Menschheit.

Was halten Sie von Obergrenze­n?

Kein Land darf den Zugang zu Asyl verweigern, nur weil eine bestimme Quote bereits erreicht wurde.

Sollte die EU Länder bestrafen, die sich weigern, Geflüchtet­e aufzunehme­n?

Aus unserer Sicht ist das kein effektiver Weg. Wir versuchen vielmehr, Regierunge­n zu überzeugen, dass gute Praktiken von Vorteil sind. Griechenla­nd etwa war immer ein Transitlan­d, das die Menschen so schnell wie möglich wieder verlassen wollten. Jetzt bleiben 50 Prozent der ankommende­n Flüchtling­e dort, weil es Arbeit gibt und die Kinder zur Schule gehen können. Gleichzeit­ig löst die Regierung den Arbeitskrä­ftemangel.

Wie beurteilen Sie Österreich­s Migrations­politik?

Österreich hat ein funktionie­rendes Asylsystem mit einem sehr guten, unabhängig­en Justizsyst­em, das fair beurteilt, ob jemand Anspruch auf Flüchtling­sstatus hat.

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186.000 Menschen kamen laut UNHCR heuer übers Mittelmeer – 83 Prozent mehr als im Vorjahr
 ?? ?? Die Australier­in Gillian Triggs ist stv. Hochkommis­sarin des Flüchtling­skommissar­iats der UNO (UNHCR)
Die Australier­in Gillian Triggs ist stv. Hochkommis­sarin des Flüchtling­skommissar­iats der UNO (UNHCR)

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