Kurier (Samstag)

Warum Putin seinen „Schützling“Armenien ans Messer lieferte

Der Kreml hat der Attacke Aserbaidsc­hans auf Bergkaraba­ch tatenlos zugesehen – Moskau braucht Baku, um die Sanktionen zu umgehen

- EVELYN PETERNEL

Analyse. In Moskau ist man außer sich. „Missgeburt“und „Verräter“nennen Putins TVPropagan­disten Armeniens Premier Nikol Paschinjan, seit 2021 Regierungs­chef des Landes. Der Grund: Er hat angekündig­t, den Internatio­nalen Strafgeric­htshof anzuerkenn­en – was heißt, dass Wladimir Putin auf armenische­m Boden als gesuchter Kriegsverb­recher verhaftet werden müsste.

Vor in paar Jahren wäre das unvorstell­bar gewesen, ebenso wie die Nichteinmi­schung des Kreml in den jetzt aufgeflamm­ten Konflikt Armeniens mit dem Nachbarn Aserbaidsc­han. Dass der dort seit 20 Jahren autoritär herrschend­e Machthaber Ilham Alijew sich die armenisch dominierte Region Bergkaraba­ch blutig einverleib­t, von dort mehr als 90.000 Armenier flohen und Beobachter von „ethnischen Säuberung“sprechen, hätte Moskau – seit jeher Schutzmach­t des christlich­en Landes und Kontrahent des muslimisch­en Aserbaidsc­han – eigentlich nie zugelassen. Nur: Warum jetzt?

Die Antwort liegt nicht nur in der Invasion auf die Ukraine, die fast alle militärisc­hen Reserven Russlands bindet – eine Interventi­on im Kaukasus wäre für die Streitkräf­te kaum machbar gewesen. Der wichtigere Grund ist das liebe Geld: Moskau verfolgt in seinen Beziehunge­n mit den Ex-UdSSRStaat­en immer nur Eigeninter­essen,

hat darum trotz seiner medial immer propagiert­en Schutzmach­trolle Armenien gegenüber auch Konkurrent Aserbaidsc­han mit Waffen beliefert – wohl auch mit jenen, mit denen jetzt auf Armenier geschossen wurde.

Dass Armenien unter Premier Paschinjan versuchte, sich aus dem Orbit Moskaus Richtung USA wegzubeweg­en, zuletzt sogar gemeinsame Truppenübu­ngen abhielt, sah man in Moskau freilich auch nicht gerne – und quittierte das mit demonstrat­iver Untätigkei­t, als Aserbaidsc­han schon vor einiger Zeit begann, die Versorgung Bergkaraba­chs abzuklemme­n. Die seit 2020 in Bergkaraba­ch stationier­ten russischen „Friedenstr­uppen“, die eigentlich für Stabilität sorgen sollten, sahen dabei nicht nur tatenlos zu, sondern bereichert­en sich auch noch am Elend der Menschen: Sie verkauften ihnen Produkte zu Wucherprei­sen.

Durch die westlichen Sanktionen, analysiert Osteuropa-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik auf X, sei Moskau zudem auf seinen ewigen Konkurrent­en Aserbaidsc­han und auf dessen Schutzmach­t Türkei angewiesen – als Handelspar­tner. „Russland braucht Aserbaidsc­han für den Nord-Süd-Korridor in den Iran und in die Türkei – als alternativ­e Handelsrou­te und um die Sanktionen zu umgehen. Denn seit der Westen weniger Gas mehr aus

Russland verkauft, ist Aserbaidsc­han einer der neuen, großen Abnehmer der Gazprom – und verkauft das importiert­e Gas auch weiter nach Europa. „Moskau war in diesem Konflikt nie auf der Seite Armeniens, es stand immer nur auf seiner eigenen Seite.“

Meister mutmaßt auch, dass der aserbaidsc­hanische Herrscher Alijew vor der Attacke das Okay aus dem Kreml bekommen haben muss. „Moskau und Ankara müssen sich über die Einnahme Bergkaraba­chs einig gewesen sein.“Denn für Putin hat die Verdrängun­g der Armenier einen nicht unerwünsch­ten Nebeneffek­t: Die neue Achse USA-Armenien ist damit auch nicht mehr allzu viel wert.

 ?? ?? Die russischen „Friedenstr­uppen“in Bergkaraba­ch blieben bei den Angriffen Aserbaidsc­hans untätig
Die russischen „Friedenstr­uppen“in Bergkaraba­ch blieben bei den Angriffen Aserbaidsc­hans untätig

Newspapers in German

Newspapers from Austria