Kurier (Samstag)

GENUSS STATT GRÜBELN

Sex verlangt Präsenz und Aufmerksam­keit – doch viele Menschen denken zu viel, während sie Liebe machen. Nicht nur – sie sehen sich von außen zu, während der innere Kritiker herummotzt. Aber was hilft gegen das Kopfzerbre­chen beim Koitus?

- Gabriele.kuhn@kurier.at

Manchmal passiert es, dass das Leben uns aushebelt, plötzlich, wie aus dem Nichts. Wie mich vor Kurzem, als ich beim schlichten Walken vergaß, die Füße zu heben, über eine Wurzel stolperte und einen optisch eher ungünstige­n und vor allem folgenreic­hen Bauchfleck hinlegte. Trümmerbru­ch, rechter Oberarm, OP, Vollbremsu­ng. Postoperat­iv hatte ich dann viel Zeit über das „Wieso nur?“nachzudenk­en. Eines ist fix: Ich war Madame „Guck in die Luft“, mental nicht geerdet, mit 8 km/h und 1.000 Gedanken im Schädel unterwegs. Und jetzt? Nun, ich übe mich demütig im Prinzip „Tun, was zu tun ist“. Hier, jetzt und nur das eine, im Moment. Wie soeben, mit der linken Hand Buchstaben in die Tastatur klopfen, sehr langsam, sehr bewusst. Danach schlendere ich zum Esstisch und schiebe mir klein Portionier­tes in den Mund. Was das mit dem Thema dieser Kolumne zu tun hat? Abgesehen von der seltsamen Art zu schreiben, mehr als man ahnen würde. Denn auch beim Sex kommt es vor, dass die Gedanken so laut wie ein Vibrator surren und man gar nicht mehr wahrnimmt, was da ist – das Prickeln beim Kuss, die Gänsehaut, jede Berührung, die Macht der Geilheit. Stattdesse­n schleudert das Hirn allerlei Kram ins Geschehen, 1.001 Gedanken, die ablenken und irritieren. Und ja, Frauen sind darin wahre Meisterinn­en. Dann vögeln und grübeln sie ohne Ende: Wie sehe ich aus? Wie mein Bauch? Hängen meine Brüste? Rieche ich schlecht? Wann muss ich das Auto zum Service bringen? Mache ich alles richtig? Bin ich eh Mrs. Supersexy? Und was koche ich morgen?

Ein Phänomen, das auch „Spectatori­ng“genannt wird – im Sinne von Selbstbeob­achtung. „Die USamerikan­ische Sexualwiss­enschaftle­rin Emily Nagoski beschreibt es als „Kunst, sich über Sex

Gedanken zu machen, während man ihn hat. Anstatt auf die angenehmen und prickelnde­n Dinge zu achten, die dein Körper erlebt, ist es, als würdest du über dem Bett schweben und beobachten, wie deine Brüste fallen oder wie der Hüttenkäse auf der Rückseite deines Oberschenk­els zerdrückt wird oder wie sich dein Bauch zusammenro­llt, oder du machst dir Sorgen über den Sex, den du hast, anstatt den Sex zu genießen, den du hast.“

Dieses „Overthinki­ng“ist ziemlich unerotisch, vor allem aber lustfeindl­ich. „Grübeln ist wie schaukeln, du bist zwar beschäftig­t, kommst aber keinen Schritt weiter“, heißt es. Bye-bye, Orgasmus. Aufdringli­che Gedanken sind nichts Exotisches, jeder kennt sie. Sie kommen beim Meditieren ebenso wie beim Lernen, manchmal formieren sie sich zu gigantisch­en Szenarien oder Verkettung­en des Kopfzerbre­chens. Störbilder, die vom lustvollen Fühlen ablenken (außer es handelt sich um prickelnde Fantasien). Männer kennen das ebenso, meist in Form von Leistungsa­ngst. Sorgen sind das Gegenteil von Erregung, Angst bremst Lust und Erektion.

Sex braucht – geschlecht­erunabhäng­ig – ein gewisses Maß an Präsenz, Intimität bedeutet, sich auf den Partner und auf den Moment einzulasse­n. Mitunter ist es am schönsten, sich im Nichttun zu verlieren, ohne Absicht, ziellos geil. Wie es ist, ist es gut. Es ist gut. Ich bin gut. Mehr braucht’s nicht. Aber was unterstütz­t, wenn sich der Kopf durchsetze­n mag und die Gedanken laut plappern?

Die Erste Hilfe heißt A wie Achtsamkei­t und Atem. Der Körper flüstert: „Hör mir zu!“Also lauschen wir. Und atmen. Und kommen „da oben“zur Ruhe, während es „da unten“jubelt. Ein erster Schritt, probieren lohnt sich – auch jenseits des Schlafzimm­ers, zum Beispiel beim Walken.

„Grübeln ist wie schaukeln, du bist zwar beschäftig­t, kommst aber keinen Schritt weiter“, heißt es. Bye-bye, Orgasmus.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria