Kurier (Samstag)

Der Kanzler, ein Lernender

Versöhnung­stermin. Wie schaut Karl Nehammer auf die Armutsdeba­tte? Nach der Kritik an einem Handyvideo traf sich der ÖVP-Chef nun mit Hilfsorgan­isationen. Im Wirtshaus, eine Live-Übertragun­g inklusive

- VON CHRISTIAN BÖHMER Gerhard Steiner, Sozialmärk­te, über hilfreiche Maßnahmen in der Armutsbekä­mpfung Karl Nehammer stimmt Steiner unumwunden zu Willi Raber von der Wiener Diakonie wünscht sich eine breitere Diskussion in der Armutsdeba­tte Karl Nehammer ü

Der Kanzler mag Bühnen, Gasthäuser sowieso. Insofern ist der Termin, den Karl Nehammer an diesem hochsommer­lichen Oktobertag absolviert, wohl einer der angenehmer­en.

Der ÖVP-Chef hat Hilfsorgan­isationen in ein Beisl in einer Wiener Kleingarte­nanlage geladen. Er will über Armut und seine Haltung dazu reden. Auch über die Leistungen der Regierung und wie das so war mit dem Handy-Video, für das er auf den sozialen Medien geprügelt wurde.

In Rage

Vermutlich muss man die Sache mit dem Video noch einmal zusammenfa­ssen, die Erinnerung verblasst ja schnell.

Vor zwei Wochen ging ein Clip viral, der Nehammer zeigt, wie er sich vor Parteifreu­nden in Emotion, man könnte auch sagen: in Rage, redet. In dem viele Wochen alten Mitschnitt hatte sich der Kanzler missverstä­ndlich bis kritisch über die Armutsdeba­tte geäußert. Bei einem Burger-Preis von 1,40 Euro könne man schwerlich behaupten, Kinder müssten hierzuland­e hungern, lautete eine der kolportier­ten Thesen. Und weil ihn selbst Wohlgesonn­ene hier sehr schnell missversta­nden haben, ist man heute hier im Gastraum eines Wirtshause­s. Im hellen Scheinwerf­erlicht, vor einem Dutzend Kameras, alles live in den sozialen Netzwerken.

Knapp 90 Minuten wird die Aussprache vor Publikum dauern, es ist eine der Schwachste­llen des eher kurzfristi­g anberaumte­n Events. Denn bei eineinhalb Stunden bleibt nicht viel Zeit für den Einzelnen. Nicht bei 13 NGOs, von denen jede vier Gäste nominiert.

Eine der wichtigste­n Botschafte­n bringt Nehammer ohnehin gleich bei seiner Begrüßung: Das erwähnte Video sei „manipulier­t“, sein Ton dem „Setting“geschuldet gewesen: „Am Fußballpla­tz redet man anders als beim Elternspre­chtag.“

Ob das in der Form für alle, also selbst für Regierungs­chefs gilt, wird nicht im Detail diskutiert. Vielmehr zeigen die NGO-Vertreter, was sie gerne vom Regierungs­chef gern hätten, nämlich: Empathie, eine sensible Sprache – und zielgenaue Hilfen für Armutsbetr­offene.

Karl Nehammer stellt die Situation erst gar nicht in Abrede. Natürlich gebe es nach wie vor Menschen, die durch das engmaschig­e Netz der Sozialhilf­e fallen. Angesichts der multiplen Krisen sei es aber eine „enorme Leistung“, dass die Armut nicht deutlich gestiegen sei. Und das müsse man auch anerkennen.

Eine Vertreteri­n der Caritas erzählt dem Regierungs­chef von einem Lernhaus in Niederöste­rreich, wo sich die Kinder mittags auf die Jause freuen – weil es die erste Mahlzeit ist, die sie an diesem Tag bekommen werden.

Liegt das daran, dass sich ihre Eltern nicht kümmern, ihnen keine Jause besorgen?

Eher nicht, zumindest ist das nicht die Erfahrung der Sozialarbe­iterin. „Ich kann Ihnen versichern, Herr Bundeskanz­ler, dass die Eltern mit denen wir arbeiten, ihre Verantwort­ung sehr ernst nehmen. Aber für eine Alleinerzi­eherin mit zwei oder drei Kindern ist es selbst mit zwei Jobs herausford­ernd, über die Runden zu kommen.“

Die Alleinerzi­eherinnen: Das war vermutlich jener Vorwurf, der Nehammer am härtesten traf. Wer als Alleinerzi­eherin zu wenig verdient, darf halt nicht in Teilzeit arbeiten. So oder so ähnlich wurde der ÖVP-Chef zitiert bzw. zusammenge­fasst. Nehammer wurmt das. „Mir wurde unterstell­t, ich hätte Mütter dazu aufgeforde­rt, mehr zu arbeiten.“

Alleinerzi­eherinnen

Tatsächlic­h habe er von Menschen gesprochen, die überhaupt keine Betreuungs­oder Versorgung­spflichten für Kinder oder zu pflegende Angehörige haben. „Es ist einfach unvorstell­bar, was Alleinerzi­ehende leisten“, sagt der Kanzler. Und die anwesenden NGO-Vertreter nehmen ihm das ab. Vielleicht nicht alle, aber viele davon.

Kritik kommt bei dem moderierte­n Treffen vor Kameras durchaus – aber wohl dosiert und überlegt.

Willi Raber von der Diakonie wünscht sich, dass Nehammer nicht über, sondern mit den Betroffene­n spricht. Im Kanzleramt oder in Hilfseinri­chtungen vor Ort. „Deren Perspektiv­e darf nicht verloren gehen!“

Andere sagen offen, dass sie der Ton im Video „irritiert“hat. Ein Einwand, den Nehammer gut nehmen kann. „Sorgfalt in der Sprache ist ein wesentlich­er Punkt, ich disziplini­ere mich da selbst, bin ein Lernender.“Das ist keine Entschuldi­gung, aber ein Schritt in diese Richtung.

Und genau so sieht es manch Anwesender. „Man muss anerkennen, dass es ein solches Angebot des Dialogs so noch nicht gegeben hat“, sagt Josef Schmoll, der für das Rote Kreuz gekommen ist. Sind alle Probleme gelöst? Mitnichten. „Aber es war ein guter erster Schritt.“

„Wir betreuen rund 200.000 armutsgefä­hrdete Menschen. Besser als Einmalzahl­ungen an diese Menschen wäre, wenn man etwa Bauern unterstütz­t, dass sie Lebensmitt­el, die wegen minimaler Mängel gar nicht in den Supermarkt kommen, diese den Bedürftige­n zur Verfügung stellen können. Der Vergleich (des Kanzlers, Anm.) mit dem McDonalds-Hamburger war nicht sehr sinnvoll.“ ***

„Der Burger-Vergleich war sicher nicht das beste Beispiel.“ ***

„Es ist wichtig, nicht über, sondern vor allem mit den von Armut betroffene­n Menschen zu sprechen. Deren Perspektiv­e darf nicht verloren gehen.“ ***

„Das Video stammt aus einer Diskussion­sveranstal­tung im kleinen Funktionär­skreis. Ich habe mich dabei nicht an die Öffentlich­keit gewandt, es war manipulati­v zusammenge­schnitten und ist Teil des Vorwahlkam­pfes.“ ***

„Unser Sozialsyst­em wirkt. Aber es hat Risse bekommen und schützt nicht mehr zuverlässi­g vor Armut. Das sehen wir in der täglichen Arbeit.“ *** „Solche Treffen müssen stattfinde­n.“ öfter

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