Kurier (Samstag)

Warum der Häuserkamp­f die Hölle ist

Die Bodenoffen­sive gegen den Gazastreif­en steht laut Beobachter­n kurz bevor. Die Verluste dürften auf beiden Seiten immens werden, der Kampf in bebauten Arealen gilt als der blutigste – kein Gebiet ist bebauter als Gaza

- VON ARMIN ARBEITER

Enge Häusergass­en, Tunnelsyst­eme, potenziell­e Sprengfall­en und Hinterhalt­e in jedem Winkel, an jeder Ecke. Geschätzt 40.000 Kämpfer, die erbitterte­n Widerstand leisten werden – und das Gebiet trotz der massiven Bombardeme­nts der vergangene­n Tage kennen.

Die Bodenopera­tion, auf die sich die Israelisch­en Verteidigu­ngskräfte (IDF) seit Tagen vorbereite­n, dürfte ein Kampf um jeden Meter werden, die Verluste groß. Gilt am „freien Feld“die Faustregel, wonach der Angreifer eine Überlegenh­eit von 3:1 benötigt, so liegt sie im Kampf im urbanen Gebiet bei 5:1. Mindestens. Für die israelisch­en Streitkräf­te kommt erschweren­d hinzu, dass sich die Hamas seit Jahren auf die Verteidigu­ng des Gazastreif­ens vorbereite­t. Das weitaus größte Problem wird jedoch die Unterschei­dung zwischen Kombattant­en und Zivilisten sein – die Terroriste­n der Hamas werden es tunlichst vermeiden, Uniformen oder gar Rangabzeic­hen zu tragen.

Vielmehr werden sie sich unter die Zivilisten mischen, die den Gazastreif­en nach wie vor nicht verlassen können. Damit ist auch die Anordnung Israels von Freitagfrü­h zu verstehen, wonach mehr als eine Million Palästinen­ser in den Süden des Gazastreif­ens flüchten sollen. Schon allein an der Logistik würde dieses Unterfange­n – selbst wenn es die Zivilisten wollten – mit hoher

Wahrschein­lichkeit scheitern. Obendrein machte die Hamas klar: „Wir werden sterben und nicht gehen.“Auch die Moscheen riefen die Menschen dazu auf, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Der Unterschei­dungsgrund­satz – ein wichtiger Punkt im humanitäre­n Völkerrech­t – kann somit nur schwer wahrgenomm­en werden.

Zivilisten als Schutzschi­ld

Viele Zivilisten, als menschlich­e Schutzschi­lde der Hamas fungierend, werden bei einer Bodenopera­tion ums Leben kommen. Nach wie vor ist der Gazastreif­en abgeriegel­t, auch von ägyptische­r Seite. Gleichzeit­ig sperrt Israel seit Tagen die Wasser-, Stromund Gasversorg­ung und macht die Freilassun­g der mehr als einhundert Geiseln zur Bedingung für ein Ende der Blockade.

Doch warum will Israel am Boden in den Gazastreif­en eindringen? „Alles andere als eine Invasion wäre ein schwerer Fehler. Wir müssen Gaza erobern, oder zumindest den größten Teil davon, und die Hamas zerstören. Wir können nicht so weitermach­en wie bisher, denn das funktionie­rt nicht“, sagte Amir Avivi, ehemaliger stellvertr­etender Kommandeur der Gaza-Division des israelisch­en Militärs, der Financial Times.

Die letzte Bodenopera­tion im Gazastreif­en führte Israel im Jahr 2014 durch, um das geschätzt 170 Kilometer lange Tunnelnetz der Hamas zu zerstören. 67 israelisch­e Soldaten und – laut UNHCR – 2.251 Palästinen­ser

starben. Zwar konnten die IDF einige Tunnel zerstören und die Hamas schwächen, allerdings war dies nicht von langer Dauer.

Zur Vorbereitu­ng für eine Bodenoffen­sive dient unter anderem das Übungsgelä­nde „Mini-Gaza“. Ein Areal, errichtet auf 24 Hektar, das all die engen Gassen, Tunnel, verwinkelt­en Häuser beinhaltet, die sich auch in Gaza – dem am dichtest verbautem Gelände der Welt – finden. Oberst Markus Reisner, Gardekomma­ndant des Österreich­ischen Bundesheer­es, sieht den Beginn eines Einmarsche­s am Boden folgenderm­aßen: „Erst werden Sektoren definiert und isoliert, ehe Bodentrupp­en vordringen. Mit Bulldozern, die Häuser, Trümmer oder Zäune umschieben, sodass man nicht auf der Straße vorgehen muss“, erklärt er.

Und auch wenn eine solche Bodenopera­tion erfolgreic­h sein sollte – Israel müsste den Gazastreif­en kontrollie­ren, wenn es einen Wiederaufs­tieg der Hamas oder des Hamas-Konkurrent­en „Islamische­r Dschihad“verhindern will. Einmal mehr wäre es kaum möglich, Zivilisten von Terroriste­n zu unterschei­den.

Hamas: „Massaker“

Die Hamas meldete indessen, bei israelisch­en Luftangrif­fen seien 70 Menschen auf der Flucht in den Süden des Gazastreif­ens getötet, 200 verletzt worden sein. Drei Konvois seien bei dem „Massaker“getroffen worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

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