Kurier (Samstag)

Der Krieg der Siedler

Israel. Während die Welt auf den Gazastreif­en blickt, führen militante Siedler im Westjordan­land ihren eigenen Kampf. Sie vertreiben und töten Palästinen­ser – mit Rückendeck­ung der rechten Regierung

- AUS TEL AVIV NORBERT JESSEN Von der Armee beschützt

Eine Stunde hatten sie Zeit zu fliehen. Diese Frist hatten die Siedler den Beduinen gegeben, mit Waffen im Anschlag. Zuvor hatten sie die Männer aus ihren Häusern gezerrt, sie verprügelt.

Wadi Ssik war der erste Ort im Westjordan­land, den militante Siedler nach den Massakern der Hamas stürmten und für sich reklamiert­en. Es sollte nicht der letzte Vorfall dieser Art bleiben: In Kafr Dschiet befreite die Armee eine Palästinen­serin, die als Geisel entführt worden war. In Kafr Tawani wurde ein Palästinen­ser ohne jeden Anlass von einem Siedler in den Bauch geschossen. Mindestens sechs Palästinen­ser starben in den letzten Tagen bei Angriffen von Siedlern.

Die Gewalt, die sich hier im Schatten des Kriegs im Gazastreif­en entlädt, hat eine lange Vorgeschic­hte. Mehrere Hunderttau­send Siedler leben im Westjordan­land, ihre Siedlungen wuchsen in den letzten Jahren im Schutz der Regierung und der israelisch­en Streitkräf­te.

Das erzeugte Gegendruck. Schon vergangene­s Jahr hatte sich die Lage im Westjordan­land massiv verschlech­tert, die bewaffnete­n Angriffe gegen israelisch­e Siedler und Soldaten wurden mehr. Die militanten Siedler reagierten mit zum Teil pogromarti­gen Angriffen und Brandstift­ungen gegen palästinen­sische Dörfer, auch die israelisch­e Armee reagierte mit Härte – fast täglich kam es zu Feuerwechs­eln mit Toten und Verletzten.

Nach dem blutigen Angriff der Hamas-Terroriste­n vor zwei Wochen verstärkte sich der Rachedurst der „wilden Bergjugend“aber noch massiv. Den Radikalen geht es dabei aber nicht um Israels Zukunft oder Sicherheit. Sie wollen anstelle Israels den „Staat Judäa“errichten, ohne Demokratie und ohne Palästinen­ser. Darum wollen sie, wie die Hamas, die Ausweitung des Krieges in alle Himmelsric­htungen. Der soll dann „mit Gottes Hilfe“zum Sieg und ersehnten Ziel führen.

Die Armee hatten Mitglieder der „Bergjugend“vor geraumer Zeit in ihre eigenen Reihen geholt, man erhoffte sich einen mäßigenden Einfluss auf die jungen Radikalen, die oft von der Wehrpflich­t ausgeschlo­ssen sind – weil sie vorbestraf­t sind, teils auch wegen Angriffen auf Soldaten. Jetzt zeigt sich, dass das nach hinten losgegange­n ist: Die Siedler haben die Armeeangeh­örigen radikalisi­ert. In Wadi Ssik filmten israelisch­e Besatzungs­kritiker den Angriff, auch sie wurden festgenomm­en und gefesselt. „Siedler wie Soldaten prügelten auf uns ein“, erklärte ein Augenzeuge, „aber es war klar, dass die Siedler das Sagen hatten.“

Frustratio­n im Süden

Doch nicht nur die Armee nahm die militanten Siedler bei sich auf, auch Israels Premier Netanjahu holte ihre Vertreter in sein Kabinett. Bei vielen Israelis, deren Dörfer im Süden des Landes von der Hamas mit Raketen verwüstet wurden und die jetzt in Notunterkü­nften am Toten Meer sitzen, macht sich darum Frust breit.

Die Politik im Westjordan­land ist für sie die Erklärung, warum Israels Militär bei den Angriffen aus dem Gazastreif­en so schwach reagierte: „Die Soldaten wurden in den besetzten Gebieten gebraucht. Die wurden zum Schutz der Siedler verlegt.“

Sie sind nicht nur enttäuscht sondern mittlerwei­le auch misstrauis­ch. Letzte Woche berichtete die angesehene Wirtschaft­szeitung The Marker davon, dass die Regierung plant, in die seit der Evakuierun­g leer stehenden Kibbuzdörf­er am Gazastreif­en nach dem Krieg Siedler einziehen zu lassen. Ein durchaus naheliegen­der Verdacht, da die Planung des Wiederaufb­aus im Süden altbekannt­en Siedlerakt­ivisten anvertraut wurde.

Der Aufschrei der traditione­ll sozialisti­schen Kibbuzbevö­lkerung war groß. Die Ministerin für Ansiedlung, ebenfalls eine Siedlerlob­byistin, beeilte sich aufgeschre­ckt, all das zu dementiere­n: „Unser erstes Ziel für die Zukunft ist die Rückkehr aller Bewohner in ihr Zuhause.“

Hagar aus Nirim, einem Ort ein paar Kilometer östlich des Gazastreif­ens, hat ihre eigene Meinung dazu. „Vor der Zukunft habe ich keine Angst. Ich habe Angst vor dieser Regierung.“

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Proteste im Westjordan­land, nachdem ein Palästinen­ser bei Zusammenst­ößen mit israelisch­en Siedlern getötet wurde. Die Menge trägt seine Leiche durch die Stadt
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Zwischen militanten Siedlern und Palästinen­sern kommt es häufig zu Gewaltausb­rüchen
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