Kurier (Samstag)

Auf Du und Du mit dem Gestern

Familienge­schichten. Martha und Victor Thonet, der Jugendstil­maler J. M. Auchentall­er und der Schmuckpro­duzent Georg Adam Scheid – alle waren sie miteinande­r verwandt und prägten die Zeit um 1900

- VON WERNER ROSENBERGE­R

Das „Tantchen“durfte nicht fehlen. So übersiedel­te Martha Scheid, später verheirate­te Thonet, in Öl gemalt 1912 in Bistritz, für einen Samstagabe­nd vom Leopold Museum in die Villa Thonet von Evamaria Schmertzin­g auf die Hohe Warte.

Denn um die Tochter des internatio­nal renommiert­en Schmuckher­stellers Georg Adam Scheid (1838–1921), der wesentlich zum Erfolg der neuen Interpreta­tion des Jugendstil-Designs made in Vienna beigetrage­n hat, dreht sich alles bei einer Reise in die Vergangenh­eit, die viel bisher Unbekannte­s zutage fördert.

Andreas Maleta, Sohn des ehemaligen Nationalra­tspräsiden­ten und ÖVP-Politikers Alfred Maleta, kam nach dem Tod seiner Mutter 2007 in den Besitz alter Dokumente, Fotos, Briefe und einem Gästebuch aus der Familienvi­lla in Oberweis, in der neben einer Reihe von Künstlern auch Thomas Bernhard ein und ausgegange­n war.

„Das machte mich neugierig “, sagt der ehemalige Journalist und Buchautor, Jahrgang 1951. Zehn Jahre Arbeit hat es gebraucht, um Licht ins Chaos seines Dachbodenf­undes zu bringen. „Und plötzlich wurde für mich die Zeit um 1900 lebendig.“

Beethoven-Musikzimme­r

Alles begann mit einem blauen Klavier und der Villa Scheid im Währinger Cottage (heute Botschaft der Republik Korea), für die der Maler, Zeichner und Grafiker Josef Maria Auchentall­er (1865–1949), Mitglied der Wiener Secession und Mitgestalt­er der Zeitschrif­t „Ver Sacrum“, ein Musikzimme­r entworfen hatte.

Wobei er mit fünf Gemälden wie „Elfenreige­n“– zu sehen sind darauf als Tanzende alle Töchter Scheids – oder „Ruhe nach dem Sturm“die fünf Sätze von Beethovens 6. Symphonie, der „Pastorale“, visualisie­rte.

Einige Jahre später kamen die Werke ins Musikzimme­r der Bugholzmöb­elfabrikan­ten Thonet im Lehenhof bei Scheibbs in Niederöste­rreich und damit in deren Kunstsamml­ung. Mit Victor und Martha Thonet verband Auchentall­er eine lebenslang­e Freundscha­ft.

„Das blaue Klavier“

Aber wie kam es zum Buchtitel „Das blaue Klavier“? „Auchentall­ers Frau Emma, eine Scheid-Tochter, schreibt in einem Brief, dass der Pepi sich jetzt seinen Flügel blau lackieren lassen will.“

Und Martha, so berichtete Andreas Maleta bei der Buchpräsen­tation über die Schwester seines Großvaters, spielte auf dem blauen Klavier Beethovens „Pastorale“.

„Sie hatte eine beeindruck­ende Vita. Als Frau um 1900 geschieden zu sein und mit dem Schicksal, keine Kinder mehr bekommen zu können, doch wieder unter die Haube zu kommen und den Großindust­riellen Thonet zu erwischen, ist schon etwas Besonderes“, sagt Maleta. Victor Thonet leitete die Möbelfabri­k in Bistritz in Mähren, wo vor allem die berühmten Bugholz-Sessel u. a. nach Entwürfen von Otto Prutscher, Otto Wagner und Marcel Kamerer erzeugt wurden. Außerdem war der Industriel­le im Motorsport der k. u. k. Monarchie aktiv: Mit Ferdinand Porsche, dem AudiGründe­r August Horch und den Skoda-Konstrukte­uren nahm er 1911 am Steuer seines Gräf & Stift an der Alpenfahrt teil, einem der frühesten Automobilw­ettbewerbe. Sie galt als eine der härtesten Rallyes in Europa, die vor dem Ersten Weltkrieg ausgetrage­n wurden.

Selbstmord aus Liebe

Die Familie Auchentall­er, die 1902 nach Grado übersiedel­t war, traf 1914 ein schwerer Schicksals­schlag. Die Tochter Maria Josefa nahm sich mit Anfang 20 das Leben, angeblich aus unglücklic­her Liebe zu einem jungen Künstler, den sie in Graz kennengele­rnt hatte. „Sie war hochtalent­iert“, sagt Maleta.

Reime geschüttel­t

Vermutlich war ein Wiener Faktotum und Multitalen­t der Grund ihres Unglücks, das wie kein anderer Noten und Reime aus dem Ärmel schüttelte – Franz Mittler, bekannt als Großmeiste­r der Kunst des Schüttelre­ims von der Art:

„Der einst die Hottentott­en schor, ist jetzt Friseur am Schottento­r.“

Oder: „Der Kurti ließ ein Stinkerl wehn, drum muss er jetzt im Winkerl stehn.“

Mittler war seinerzeit aber vor allem bekannt als Komponist, Pianist und – in den 30er-Jahren – ständiger Begleiter und „Musikdirek­tor“von Karl Kraus bei dessen legendären Auftritten.

Er komponiert­e in der Emigration nicht nur für den Zeigefinge­r von Groucho Marx eine Ein-Finger-Polka, sondern vertonte bereits 1926 auch Gedichte von Maria Josefa, „die fast so schön sind wie die von Rainer Maria Rilke“, sagt Maleta, „aber so traurig, dass man sich nachher eigentlich nur umbringen möchte.“

Andreas Maleta: „Das blaue Klavier – Von Wien über Mähren nach Scheibbs, Grado und Gmunden. Die Geschichte der Familie Martha und Victor Thonet um 1900“, 272 S., 89 Abb., Ibera Verlag, Wien, 30 € www.dasblauekl­avier.com

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