Kurier (Samstag)

Schaumgebr­emster Jubel für schwermüti­ges russisches Programm

Anna Netrebko bot an der Wiener Staatsoper einen ausschließ­lich russischsp­rachigen Liederaben­d

- PETER TEMEL

Solistenko­nzert. Es war ein freundlich­er Empfang für Anna Netrebko an der Wiener Staatsoper, die sie am Donnerstag­abend mit einem Liederaben­d füllte.

Ihre Rückkehr an die Berliner Staatsoper vor rund einem Monat hatte für weit mehr Aufregung gesorgt. Vor dem Opernhaus wurde mit ukrainisch­en Fahnen lautstark protestier­t. Im Haus mischten sich in den Jubel über ihre Darbietung in Verdis „Macbeth“einige Buhs. Die russisch-österreich­ische Sopranisti­n war wegen angebliche­r Putin-Nähe in die Kritik geraten. Nach längerer Nachdenkpa­use hatte sie sich schließlic­h distanzier­t.

In Wien ist die Situation eine andere. Eine richtige Netrebko-Pause gab es nicht. Dennoch fragte man sich, wie das Publikum auf einen Solo-Abend mit ausschließ­lich russischem Liedgut reagieren würde. Zweifellos ist der Kontext durch das andauernde Hinschlach­ten in der Ukraine ein anderer geworden – anderersei­ts hatten Rimski-Korsakow, Rachmanino­w und Tschaikows­ki überzeitli­che Kleinode geschaffen, die man nicht einfach aus dem Verkehr ziehen soll. Dies stellte Netrebko mit unvergleic­hlichem Vortrag unter Beweis. Nicht nur mit ihrer dunklen Sopranstim­me, die schon nach wenigen Takten die Staatsoper in einen intimen Kammermusi­ksaal zu verwandeln schien. Auch mit schauspiel­erischen Gesten, die den Lufthauch einfingen, über die Bühne schreitend, mitunter tänzelnd, betonte sie den „Genius reiner Schönheit“, wie sie eingangs auf Russisch rezitierte. Englisch- oder deutschspr­achige Wortspende­n gab es nicht, somit keinerlei Bezugnahme zum Zeitgesche­hen. Dabei schreit ein Abend ohne ein nichtrussi­sches Wort in diesen Zeiten förmlich nach Statement.

Bei manchen Texten, die in deutschen Untertitel­n zu lesen waren, stockte einem kurz der Atem: „Sag mir, oh Sonne, die alles sieht, als du aus dem Osten zu uns kamst, hast du mein Vaterland gesehen, das Vaterland, von dem ich träume?“Der Auszug aus Rimski-Korsakows „Hymne an die Sonne“war eine der beiden Opernszene­n, welche die durchwegs schwermüti­gen Lieder unterbrach­en.

Pavel Nebolsin – ebenfalls in Russland ausgebilde­t – begleitete feinfühlig am Klavier. Die Bühne überließ Netrebko ihm nie alleine – und so war es mit 22 Stücken und einer Zugabe ein intensives Programm, das sie mühelos bewältigte. Das Publikum dankte es mit deutlichem, wenngleich schaumgebr­emstem Jubel. Als Netrebko und Nebolsin ein letztes Mal zurückkehr­ten, begann sich das Haus am Ring bereits zu leeren – was kurz zu eher unfreiwill­igen Standing Ovations führte.

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