Der gläserne Finne
Von der Wiege bis zur Bahre: Das digitale Musterland Finnland sammelt und vernetzt alles über seine Bürger, zum Wohle der Bürger, wie betont wird. Und die nehmen es mit großem Vertrauen hin
Glaubt man dem Taxifahrer am Flughafen in Helsinki, dann ist das mit der Abschaffung des Bargelds so eine Sache. „Bar oder mit Karte“, fragt Farid, und während der Reisende staunt – kann man in Finnland überhaupt noch bar zahlen? – legt der Mann am Steuer schon los: „Im Oktober nächstes Jahr werden alle Bankomaten abgeschafft, und die Menschen sind alles andere als glücklich. Sie fühlen sich jetzt schon kontrolliert, und dann haben sie überhaupt keine Kontrolle mehr über ihr Geld.“
Übermäßige Kontrolle ist überhaupt ein Lieblingsthema des Irakers, der 2015 seinem Bruder nach Österreich gefolgt ist und, weil das mit dem Asylstatus zu lang gedauert hätte, weiter nach Schweden gezogen ist. „Sie wissen alles von dir.“
Technologie-Vorreiter
Glaubt man Stefan Lindström, dann ist Finnland im Ranking der glücklichsten Länder der Welt zurecht seit fünf Jahren auf Platz eins. „Unsere Natur, unsere Werte und unsere Technologie sind dafür verantwortlich“, sagt der Botschafter für Digitalisierung und neue Technologien und erzählt gleich von den drei riesigen Microsoft Daten Zentren in Finnland, die Unmengen Energie verschlingen, „das ist rein grüne Energie“, und die enorm viel Hitze abgeben, „die ins Heizungssystem von Helsinki eingespeist wird – eine Winwin-win-Situation“.
Im Land, aus dem das Nokia-Handy die Welt eroberte und in dem ein Start-up die ersten Quantencomputer baut, ist der Stolz auf die Tech-Führerschaft an allen Ecken zu sehen und zu spüren.
Im Übrigen vertraue der Finne den Behörden „und wie die mit unseren Daten umgehen. Geld? Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal echtes Geld verwendet habe – oja, vor einem Jahr in Portugal, als der Taxifahrer keine Karte nehmen wollte.“Diese Taxifahrer.
Kaum noch Bargeld
Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, Tendenz Richtung Lindström: Überall in Finnland wird noch Bargeld genommen (anders als in Schweden), aber Barzahler sind in der krassen Minderheit. Ist doch Finnland, einst Armenhaus des Kontinents, das digitale Vorzeigeland in Europa – im Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft auf Platz eins der EU-Staaten, vor Dänemark und den Niederlanden; Österreich ist Zehnter.
„Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare“mag anderswo gelten. In dem Land mit den zwei offiziellen Sprachen (Finnisch, Schwedisch) gilt „Digital“als dritte. Und es gibt einen Regierungsbeschluss, den auch die neue Rechtskoalition übernommen hat, der lautet: Bis Ende 2023 muss der gesamte öffentliche Sektor digital sein.
Leben erleichtern
Dieses Ziel ist dabei, erreicht zu werden. Die Behörden sammeln nicht nur die Daten von 5,5 Millionen Einwohnern in Finnland, sie vernetzen sie und verwenden sie – „um den Menschen das Leben zu erleichtern“, wie Lindström, er stammt tatsächlich aus dem diplomatischen Dienst, sagt. Auf der Plattform suomi.fi können sich die Menschen Tipps von der Scheidung bis zur Altenbetreuung, von Verkehr bis zur Geschäftsgründung holen bzw. alles gleich digital abwickeln. Das Baby ist vor dem ersten Atemzug digital registriert; ob das Kind in die Vorschule geschickt werden soll, wird rechtzeitig als Frage zugeschickt; und für ein Begräbnis müssen die Angehörigen keine Dokumente mehr liefern und Formulare ausfüllen – alles schon da, digital.
Steuererklärung kommt
Selbst die Steuererklärung füllt niemand mehr selbst aus: Das Finanzamt schickt sie zeitgerecht ausgefüllt zu – es weiß ja, wie viel der Steuerpflichtige verdient, welche Aktien er verkauft hat, welchen Grund er erworben hat. Der Bürger meldet allfällige Einwände (digital) und unterschreibt.
„Ja, für Sie in Österreich oder Deutschland ist das alles unvorstellbar“, sagt Reeta Tilvis vom Sozialversicherungsinstitut Kela, das alle Gesundheitsdaten sammelt, dazu die der wirtschaftlichen Situation der Familie samt Änderungen im privaten Bereich. Das gehe nur mit großem Vertrauen in die Behörden und die Institutionen des Staates, „die Finnen haben das, traditionell, auch weil es keine Korruption gibt und das Vertrauen nicht enttäuscht wird“.
Das große Vertrauen wird überall und viel betont – ist es wirklich so groß? Und machen die gesammelten Daten das Leben wirklich so viel einfacher?
„Ich versuche schon, mit meinen Daten vorsichtig umzugehen“, sagt Ella, eine 47jährige Architektin in einem Einkaufszentrum in Helsinki, „Aber was soll ich machen, über die Jahre haben sie ohnehin schon alles gesammelt. Ich kann nur vertrauen, dass das gut geht.“Und ihre Tochter Emilia rollt die Augen: „Es geht alles so einfach, Mama, ich kann von der Apotheke bis zur Vollmacht alles am Handy erledigen.“
Kela und andere öffentliche Institutionen arbeiten übrigens an einer digitalen Brieftasche, die auf dem Handy von der Studentenkarte über den Lebenslauf, den Führerschein, das Bankkonto, die Versicherungen und die Gesundheitsdaten quasi das ganze Leben in Datenform auf einen Klick vereint.
Ist es nicht spooky, der total gläserne Mensch zu sein? „Ihr seid doch auch gläsern, von Euch haben sie auch alle Daten – dann kann man es doch gleich zum Vorteil nutzen“, sagt Kimi, Kellner im Restaurant Zetor. Er hat heute übrigens erst 10-mal cash kassiert, und es geht auf Mitternacht zu.
Kein Aus für Bankomaten
Womit wir wieder beim Bargeld sind: Das mit den Bankomaten, die in Finnland abgeschafft werden sollen, stimmt nicht – da ist Farid einem Gerücht aufgesessen oder verbreitet es gerne. Allerdings: Sucht man einen Bankomaten, kann man lange suchen. Und so digital Finnland mitsamt seiner amtlicherseits ausgefüllten Steuererklärung auch ist: Im Gesetz steht, so erzählt Veijo Romppainen, Direktor in der finnischen Steuerverwaltung, dass jeder seine Steuerschuld auch in Bargeld leisten kann. „Aber die Barzahler kann man an ein paar Händen abzählen. Und die Steuermoral in Finnland ist hoch – es hat noch niemand aus Protest einen Sack mit 5-Cent-Münzen abgeliefert.“