Kurier (Samstag)

Erste britische Stadt erlaubt Bürgern, auf Gemeindefl­ächen Gemüse anzubauen

Vorreiter ist die nordenglis­che Stadt Hull. Hier zieht ein Pionierpro­jekt seit zehn Jahren Pflanzen im Schatten des Industrieg­ebiets

- ANNA-MARIA BAUER, LONDON

Stadtpflan­zen. Unlängst waren die Erdäpfel dran. Vorsichtig wurden die jungen Casablanca Spuds aus dem Hochbeet geholt, von Erde befreit, in den Kübel gelegt. „Keine schlechte Ausbeute“, meinte einer der Freiwillig­en. Und das trifft einmal mehr zu, wenn man die Lage in Betracht zieht: Denn das Hochbeet befindet sich inmitten der dicht verbauten, nordenglis­chen Industries­tadt Hull.

Vor zehn Jahren hat Umweltpion­ier Adrian Fisher mit dem Projekt „Rooted in Hull“(dt. Verwurzelt in Hull) ein ungewöhnli­ches Urban Farming Projekt realisiert: Er zog mit Dutzenden Schiffscon­tainern auf einem ungenützte­n Industrieg­elände ein. Die Container verwandelt­e er mit seinem Team zu einer Bäckerei, einem Bienenhaus oder auch einem Ausstellun­gsraum. Rundherum errichtete­n sie Hochbeete, in denen Gemüse angebaut wurde, das im Bedarfsfal­l rasch an einen anderen Ort wandern könnte.

Gemüse im Schatten der Großstadt: Davon soll es in Hull bald mehr geben. Diese Stadt will es Briten als erste erlauben, auf öffentlich­e Flächen Obst oder Gemüse anzubauen. Die Stadträte haben im Oktober den Antrag „Recht auf Anbau“einstimmig angenommen.

Der Vorstoß kommt zum richtigen Zeitpunkt. Obwohl im Vereinigte­n Königreich das durchschni­ttliche Lohnwachst­um im August zum ersten Mal seit fast zwei Jahren über der Inflations­rate lag, macht die Lebenskost­enkrise den Briten weiterhin zu schaffen. Im Sommer hat mehr als jeder vierte Brite auf Essen verzichtet, um Kosten zu sparen, ergab eine Umfrage von YouGov.

Immer mehr wollen Nahrung selbst anpflanzen, doch dafür fehlt der Platz. Laut Guardian ist die Warteliste für Kleingärte­n in England in den vergangene­n zwölf Jahren um 81 Prozent gestiegen. Mehr als 150.000 Menschen suchen eigene Anbaufläch­en.

Deshalb soll Hull am besten kein Einzelfall bleiben. Die Initiative „Incredible Edible“(dt. Unglaublic­h Essbar)

fordert das „Recht auf Anbau“ im ganzen Land ein. „Das größte Hindernis für einen stärkeren lokalen Lebensmitt­elanbau ist der Mangel an verfügbare­n Flächen in der Nähe der Wohnorte“, erklären sie in ihrer Kampagne.

Mentale Gesundheit

Um den genehmigte­n Anbau in Hull zu realisiere­n, lässt die Stadt eine Karte mit geeigneten Flächen erstellen. Sowie ein Konzept, wie unterstütz­ende Infrastruk­tur (etwa Wasservers­orgung) eingesetzt werden kann. „Das Projekt wird Hull in vielerlei Hinsicht zugute kommen“, sagte Gemeinderä­tin Gill Kennett im Guardian. „Wir sind eine benachteil­igte Stadt und brauchen billige Lebensmitt­el.“Dazu komme der psychische Aspekt. „Der Anbau von Lebensmitt­eln gibt den Menschen etwas zu tun, er gibt ihnen Selbstvert­rauen.“

Auch bei „Rooted in Hull“war der Gemüseanba­u nie das einzige Ziel. „Es geht darum, Menschen zusammenzu­bringen“, sagt Neil Richards. „Zum einen, um zu zeigen, wie einfach es ist, anzubauen. Aber auch, weil wir einen sicheren Platz schaffen wollten.“Für Menschen wie Paul. Paul stieß vor rund drei Jahren als Freiwillig­er zum Projekt. Er befand sich damals im Alkohol- und Drogenentz­ug. Heute ist er engagierte­r Küchenchef der Organisati­on und Ehrenmitgl­ied der Frauengrup­pe, die sich donnerstag­s zum Austausch trifft.

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Garteln mitten im Industrieg­ebiet: Das Projekt „Rooted in Hull“baut bereits Gemüse in Hochbeeten an

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