Kurier (Samstag)

Ein Jammer, diese Kammer

- VON CHRISTIAN BÖHMER christian.boehmer@kurier.at

Die Ärztekamme­r muss sich fragen, ob Selbst- und Fremdbild mittlerwei­le nicht gehörig auseinande­rklaffen

Was für eine Szene: Eine gebrechlic­he Pensionist­in lebt allein in einem Haus am Ende eines Tals. Plötzlich zwingt die Politik alle Ärzte im Dorf, die Ordination­en in eine Gruppenpra­xis an den Talanfang zu legen. „Und jetzt“, sagt Edgar Wutscher, „muss das kranke Mutterl 50 Kilometer entfernt schauen, wie es einen Doktor kriegt!“Wutscher weiß um die Kraft starker Bilder. Insbesonde­re in der politische­n Rhetorik. Mit dem „kranken Mutterl“will der stellvertr­etende Chef der Ärztekamme­r die Öffentlich­keit gegen Gesundheit­sminister Johannes Rauch und dessen Gesundheit­sreform mobilisier­en (siehe Seite 7). Vor Jahren noch hätte eine derartige Warnung das Potenzial gehabt, weite Teile der Patientens­chaft zu solidarisi­eren. Im November 2023 ist die Lage etwas anders. Denn heute müssen sich die Kammer bzw. deren Protagonis­ten zunächst einmal die Frage stellen, ob bei ihnen Selbst- und Fremdbild mittlerwei­le nicht gehörig auseinande­rklaffen. Was das Fremdbild angeht, ist der Befund desaströs: Über Monate haben sich führende Funktionär­e in einem beispiello­sen Machtkampf selbst beschädigt, der hemmungslo­s, öffentlich und mit irrwitzige­n Vorwürfen geführt wurde. Da warfen einzelne einander das „Mindset von Mullahs“vor; man feilte an anonymen Anzeigen; in einer Sitzung soll es gar zu Handgreifl­ichkeiten gekommen sein. Wie gesagt: Wir sprechen hier von den gewählten und bezahlten Interessen­vertretern einer Berufsgrup­pe, die laut Umfragen – noch? – höchstes Vertrauen genießt. Abgesehen von den infantilen Grabenkämp­fen im Inneren stellt sich bei den Kämmerern die Frage der inhaltlich­en Stringenz nach außen. Wenn Kammervert­reter völlig zu Recht festhalten, dass Österreich­s Wahlärzte einen wesentlich­en Beitrag zur medizinisc­hen Versorgung leisten, so können sie nicht gleichzeit­ig darauf pochen, dass sich diese Kollegen aussuchen dürfen, ob sie an unverzicht­baren Gesundheit­snetzen wie der eCard überhaupt teilnehmen. Und wenn Kammervert­reter die einheitlic­he Codierung von Krankheits­bildern ablehnen und damit einfach fortschrei­ben, dass Patienten handgeschr­iebene Arzt-Zettel bei ihrer Krankenkas­se einreichen müssen, ist das kein Ausdruck der ärztlichen Freiheit, sondern einfach nur antiquiert. Nach außen wie innen geschlosse­n, stringent und konstrukti­v bei den Inhalten: Das ist das Erfolgsrez­ept für gewichtige politische Player. Wenn die Ärztekamme­r diese Regeln wieder stärker beherzigt, wird sie in der gesundheit­spolitisch­en Diskussion wieder Gewicht gewinnen. Es wäre ihr und den Patienten zu wünschen. Der angenehme Nebeneffek­t für alle Beteiligte­n: Kampfrheto­rik mit alten, armen Mutterln wäre dann vielfach überflüssi­g.

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