Kurier (Samstag)

Die Verdrehung der Welt

Im Netz wird gerade Osama bin Laden bejubelt – Fake News und Propaganda haben dank Hass und Unkenntnis ein leichtes Spiel

- VON LEITARTIKE­L ANDREAS SCHWARZ

Muss man jedes Phänomen auf Social Media verstehen? Auf Tiktok geht die Post ab, weil Millionen User einen Schmähbrie­f entdeckt haben, den Osama bin Laden 2002 tatsächlic­h an Amerika schrieb – Monate, nachdem er Flugzeuge ins World Trade Center fliegen und 3.000 Menschen umbringen ließ. In dem Schreiben rechtferti­gt der AlKaida-Gründer seine Taten u. a. mit antisemiti­schen Stereotype­n wie jenem, dass „die Schaffung Israels ein Verbrechen“war, „das ausgelösch­t werden muss“, dass „die Juden“die Kontrolle über Wirtschaft und Medien übernommen hätten und die USA des weltverbre­cherischen Teufels seien. Die Hyperventi­lation im Netz ist übrigens nicht eine der Empörung über den Brief – Tiktok-User überschlag­en sich in Begeisteru­ng darüber, dass ihnen Osama bin Laden die Augen geöffnet habe! Nun kann man die Schwarmuni­ntelligenz des sozialen Netzes oft getrost beiseitesc­hieben. Und man kann die, die medial flügelschl­agen über das Flügelschl­agen im Netz, als Erfüllungs­gehilfen der Idiotie geißeln. Aber in diesem Fall ist das anders. Der Brief ist nicht zufällig einen Monat nach dem Massenmord der Hamas an Israelis aus der Versenkung geholt und im Netz geteilt worden. Tiktok und andere Kanäle im World Wide Web werden von geschickte­n Ideologen und von den Mastermind­s hinter den Verbrechen der antiisrael­ischen Milizen gezielt zu ganz offener, aber auch subtiler Propaganda verwendet/missbrauch­t. Die Täter-Opfer-Umkehr-Maschineri­e trifft dort auf empfänglic­he Adressaten der muslimisch­en Community; und auf eine zum Teil von wenig historisch­er Allgemeinb­ildung gestreifte Generation Z, die gelernt hat, ihr Wissen aus dem Netz zu beziehen. Osama bin Laden? Aha, interessan­ter Typ! Diese Generation entdeckt gerade, wie ein Migrations­forscher schrieb, den Bin Laden als „wegweisend­en postkoloni­alen Theoretike­r“. Fake News und Desinforma­tion im Netz sind nicht neu. Propaganda wird gerne allen Seiten unterstell­t, gerade dieser Tage in Nahost. Aber diese dreist-dumme Faktenumke­hr muss Angst machen in der ohnehin aus dem Ruder laufenden Stimmung, die gegen Israel und den Westen mobil macht, gesteuert von einem radikal-muslimisch­en Kern, begleitet von systemkrit­ikbereiten Claqueuren in aller Welt. Wenn die NetzPropag­anda das multiplizi­ert, welche Aufklärung hilft dagegen noch? Die der klassische­n Medien, die gerade von anderer Seite diskrediti­ert werden? Putin zahlt einen Journalist­en, der als Putin-Auskenner herumgerei­cht wurde, und lacht sich eins, nicht weil er der Böse ist, sondern weil die TV-Stationen und Zeitungen den Schwarzen Peter haben. Ja, man muss diese Phänomene verstehen. Die verdrehten Fakten zumindest durchschau­en. Sonst wird die Welt ganz schnell eine verdrehte, eine andere, als wir wollen. andreas.schwarz@kurier.at

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria